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Wirtschaftspolitik

Die Coronakrise als Scheideweg

Bringt uns die Pandemie die „green economy"?

Mitten in der zweiten Covid-19-Welle treten wir in das Jahr 2021 ein. Mehrere Impfstoffe wurden weltweit erprobt und zugelassen. In den reichen Industrienationen starten mit Anlaufschwierigkeiten die ersten Impfprogramme. Doch in den Pflegeheimen und auf den Intensivstationen nimmt die Zahl der schwer Erkrankten und der Sterbenden weiter zu.

Welche Aussichten für ein Ende der Coronakrise gibt es? Die Virologen warnen und betonen, dass eine Herdenimmunität erst mit einer Impfquote von 60 bis 80 Prozent der Bevölkerung erreicht wird. Doch es bestehen zumindest Aussichten, dass die derzeitigen Lockdown-Maßnahmen sich zum Herbst/Winter 2021 nicht mehr wiederholen bzw. deutlich gelockert werden könnten. Denn mit einer erfolgreichen Durchimpfung der Risikogruppen im Laufe des Jahres müsste sich die Situation auf den derzeitig mit Covid-19-Patienten überbelegten Intensivstationen spürbar entlasten. Kehrt damit die Welt wieder in das vorherige „normale Leben“ zurück?

Die neue Normalität

Immer mehr Menschen beschleicht das ungute Gefühl, dass von dieser Krise etwas nachbleibt, dass es keine Rückkehr mehr in den alten status quo geben wird. Auch in den Medien taucht zunehmend der Begriff „neue Normalität“ auf.
Die Coronakrise erscheint zunehmend als historische Zäsur, als Scheideweg, so als entwickele sie in einer hochgradig vernetzten Welt eine transformative Kraft, krisenhafte und technologische Prozesse des 21. Jahrhunderts zu beschleunigen.

Der Wettbewerbsstaat

Die Corona-Pandemie fällt zusammen mit einer Krise des neo-liberalen Modells der kapitalistischen Wirtschaftsweise und vertieft diese akut zu einer weltweiten Rezession, indem Regierungen zu Zwecken der Pandemiebekämpfung in das Räderwerk der Wirtschaft eingreifen und ganze Sektoren und Branchen zeitweilig stilllegen.
Worin besteht diese neoliberale Krise?
Über 40 Jahre wurde die globalisierte Weltwirtschaft von der marktradikalen Wirtschaftstheorie des Neoliberalismus geleitet. Einer der Kernpunkte seiner Agenda war die Theorie vom „Wettbewerbsstaat“.
Der Staat sollte sich verschlanken, seine Staatsausgaben durch Einsparungen auf das Notwendigste reduzieren. Dadurch sollten massive Steuersenkungen und bessere internationale Wettbewerbsbedingungen für die nationalen Großunternehmen ermöglicht werden. Im Ergebnis ist in allen jenen Ländern, die sich dieser neoliberalen Wirtschaftspolitik besonders radikal unterwarfen wie zum Beispiel USA, Großbritannien und Deutschland, die gesamte staatliche Infrastruktur seit Jahrzehnten unterfinanziert:
Schulen, Universitäten, Gesundheitswesen, Forschung, Häfen, Verkehr, Energiewirtschaft, Informationstechnologie. Es besteht ein gewaltiger Innovationsstau, den wir auch an Bremer Schulgebäuden ganz augenscheinlich bemerken können.

Der „stakeholder"-Kapitalismus

Jetzt im 21. Jahrhundert treten mit dem Klimawandel, der Bedrohung der Biodiversität, mit der sich beschleunigenden Digitalisierung und dem staatskapitalistisch organisierten Giganten China neue gewaltige innovative Herausforderungen auf, die mit dem schwachbrüstigen und unterfinanzierten „schlanken Staat“ der neoliberalen Epoche nicht mehr zu meistern sind. Dies erkennen auch strategisch denkende Kapitalvertreter und Politiker des Westens und befürworten darum mehr internationale Kooperation zwischen Staaten und multinationalen Konzernen sowie die Rückkehr zu einem handlungsfähigeren Staat, der als „ideeller Gesamtkapitalist“ notwendige Innovationen und Strukturreformen auch gegen Widerstände einzelner Industriebranchen oder betroffener Bevölkerungsgruppen durchsetzen kann. Gefordert wird ein wirtschaftlicher Umbruch zu einer „green economy“ oder auch zu einem „stakeholder-Kapitalismus“ [Anm.: stakeholder = Im Unterschied zum shareholder (den Anteilseignern eines Unternehmens) die Gesamtheit der Personen, auf die die Entscheidungen eines Unternehmens Einfluss haben, letztendlich also die betroffenen Bürger.], also einer nachhaltigeren und sozial verantwortungsbewussteren Marktwirtschaft, so u.a. in dem Buch „Covid-19: The great reset“ von Klaus Schwab, dem Gründer und Vorsitzenden des Weltwirtschaftsforum (WEF). Die entsprechende Publikation ist im Internet in Kreisen der Corona-Skeptiker Ausgangspunkt für diverse Verschwörungsmythen, die sich um Covid19 als fake-Epedemie und inszenierte Verschwörung ranken.

Die neuen Chancen

Aber auch ohne Verschwörungsmythen lässt sich festhalten: Die Coronapandemie stellt sich aus Sicht führender Kapitalvertreter und Politiker zunehmend als eine umfassende gesellschaftliche Krise dar, die weit über die epidemiologische Bekämpfung eines Virus hinausgeht. Es geht nicht nur darum, das Überleben vitaler Unternehmen durch Corona- Finanzhilfen abzusichern und den Konjunkturaufschwung nach der Krise vorzubereiten.

Es geht auch darum, die Chancen zu nutzen, die die Pandemie und deren Bekämpfung neu eröffnet haben. Dies betrifft zum Beispiel den Digitalisierungsschub, den der Lockdown durch Home-Office für Unternehmen und durch Distanzunterricht für Schulen und Universitäten ermöglichte und der jetzt durch staatliche Gesetzgebung und Förderung auszubauen ist. Auch für die bröckelnde und vom Zerfall bedrohte EU stellt das 750 Milliarden schwere Corona-Hilfspaket eine Chance zur sogenannten „vertieften Integration der Gemeinschaft“ unter deutsch-französischer Führung dar. Außerdem wird das Modell eines erfolgreichen globalen Krisenmanagements, dem es trotz weltweit zunehmender nationalistischer Tendenzen gelang, supranationale Organisationen wie die WHO mit nationalen Regierungen und internationalen Konzernen zu vernetzen, beispielhaft nachwirken bei zukünftigen Naturkatastrophen, ökologischen Krisen und globalen Flüchtlingsströmen.

Der „top-down-Mechanismus"

Für die einfachen Menschen, die abhängig Beschäftigten und die Gewerkschaften ist zu befürchten, dass dieser Umbau der kapitalistischen Wirtschafts- und Arbeitswelt im Zeitalter der Digitalisierung und der drohenden Klimakatastrophe genauso gemanagt wird wie die Bekämpfung der Corona-Pandemie: also weitgehend „top down“, auf zum Teil intransparenten Entscheidungswegen ohne Beteiligung der Parlamente, ohne Mitbestimmungsrechte der unmittelbar Betroffenen und mit einer geschickten medialen Steuerung der öffentlichen Meinung, die die entsprechenden zukünftigen Maßnahmen als Sachzwänge und alternativlos benennen wird.

GEW muss kritisch bleiben

Angela Merkels Satz von 2011, dass parlamentarische Demokratie und Mitbestimmung marktkonform zu gestalten seien, charakterisiert sehr gut den Lösungsweg zum führungsstarken Staat, den uns Kapitalvertreter wie Klaus Schwab für die Coronakrise und für zukünftige Krisen des 21. Jahrhunderts aufzeigen.
Es liegt also an uns, der GEW, auch in schwierigen Zeiten kritisch zu bleiben, alternative Zukunftsentwürfe zu entwickeln und für Mitbestimmung und partizipative Demokratie einzutreten.