Die Lage der Bildung in Bremerhaven ist so prekär wie nie. Wie gehen Sie als verantwortlicher Dezernent damit um?
Die aktuelle Lage erfordert von uns tatsächlich ein hohes Maß von Flexibilität und Kreativität. Für die Lösung des Problems gibt es eine Menge Faktoren, die es nicht leicht machen. Wir haben einen wachsenden Fachkräftebedarf im Schulbereich, wir finden aber immer weniger Leute mit den benötigten Qualifikationen. Dazu haben wir wachsende Schülerzahlen. In Bremerhaven haben sich diese Probleme früher gezeigt als in vielen anderen Städten, auch als in Bremen. Im Schuljahr 2016/2017 konnten wir erstmals Stellenkontingente nicht besetzen. Diesen Zustand haben wir jetzt wieder. Dadurch wird das System zusätzlich belastet.
Belastungen, die Ihren Job deutlich schwieriger machen.
Ich bin trotz der vielen Schwierigkeiten froh darüber, dass wir noch kommunale Spielräume haben, die wir nutzen können. So gelingt es immer wieder, in vergleichsweise kurzer Zeit eigene Lösungen auf den Weg zu bringen, ob es nun um Werbung von Lehrkräften geht, eine kommunale Schulentwicklung oder auch um Unterstützung durch das städtische Lehrerfortbildungsinstitut.
Sie sind aber darauf angewiesen, dass der kommunale Finanzausgleich vernünftig ausgestattet ist.
Das ist wahr.
Sagen Sie sich da nicht öfter, da müsste eigentlich mehr Unterstützung kommen?
Ja, auf vielerlei Ebenen. Die Ausstattung im Bildungsbereich ist abhängig von der Haushaltslage der Länder und der Kommunen. Davon hängen wiederum die Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen ab. Ich glaube, dass die Familien diese Mangelverwaltung immer weniger akzeptieren.
Und da ist Politik in der Pflicht. Es muss egal sein, ob ein Kind in Bremerhaven oder in Baden-Württemberg aufwächst. Es muss überall die gleichen Bildungschancen haben, ohne Gefälle nach Kassenlage. Das ist aber nicht der Fall. Bildung stand im Haushaltsnotlageland Bremen in den letzten Jahren immer unter dem Spardiktat der Schuldenbremse.
Sind Sie zufrieden mit Ihrem Einfluss auf den kommunalen Finanzausgleich?
Es ist nicht nur der Finanzausgleich an sich. Seit Einführung der Zuweisungsrichtlinie haben wir eine klare Regelung für die Lehrkräftezuweisung, die sich nicht nach Haushaltslage, sondern der tatsächlichen Zahl von Klassenverbänden richtet. Das ist ein großer Fortschritt. Es geht um die Haushaltsituation insgesamt, auch der Stadt. Wir brauchen hier in Bremerhaven mehr Investitionen für den Bildungsbereich. Förderprogramme bräuchte es allerdings auch auf der Landesebene. Aber dabei können wir nicht stehen bleiben. Am Ende steht immer die Frage des Kooperationsverbotes. Also die Frage, welchen Part spielt die Bundesregierung beim Ausgleich dieser unterschiedlichen Verhältnisse. Da würde ich mir höhere Ausgaben wünschen. Für mich als Verantwortlicher der Kommune ist der Deutsche Städtetag das Organ, über das diese Forderung transportiert wird.
Das aktuelle Hauptthema ist der Fachkräftemangel. Sie leiden stark darunter, stärker als andere Städte. Sehen Sie irgendwo Land in Sicht?
Es gibt nicht die eine Maßnahme, die das ganze Problem löst. Da braucht es eine Gesamtstrategie, und die beginnt bereits bei der Ausbildung an den Universitäten. Mir ist nicht klar, warum es an der Uni Bremen immer noch keinen Studiengang Inklusive Pädagogik gibt. Das notwendige Personal wird dort nach wie vor nicht ausgebildet.
Sie haben kein Verständnis, dass die Planungen dafür immer weiter nach hinten geschoben werden?
Ich kann es wirklich nicht verstehen. Die Uni Bremen ist die einzige Hochschule des Landes für die Lehrerausbildung und die pädagogische Ausbildung. Aus meiner Sicht ergibt sich daraus eine politische Verpflichtung.
Das hört sich nach Frust an?
Eher nach einem Appell! Für die Inklusion brauchen wir Fachkräfte. Wir haben früh gemerkt, es gibt zu wenig Sonderpädagogen. Da haben wir einen Weiterbildungsstudiengang konzipiert für Lehrkräfte, die sich zu Sonderpädagogen weiter qualifizieren wollen. Das mussten wir mit der Uni Oldenburg machen. Die Bremer Uni hat erst später nachgezogen. Aber ohne Uni Bremen werden wir diesen Teil des Mangels nicht beheben können. In anderen Bereichen sind wir deutlich besser geworden.
Zum Beispiel durch die Aufstockung der Referendariatsplätze. Das war ein politischer Prozess. Das hat lange gedauert, aber es war wichtig, gerade in Bremerhaven, weil die Bindekraft an den Schulen dadurch sehr hoch ist. Wer erstmal hier angekommen ist, bleibt auch vielfach.
Meine Kolleginnen und Kollegen sagen mir aber, dass die Aufstockung schon jetzt nicht mehr ausreicht.
Das allein reicht nicht aus, um den Fachbedarf zu decken. Aber eine weitere Aufstockung kann auch nur bedingt eine Lösung sein. Dadurch würden wir die Schulen überfordern. Wir brauchen ja immer auch mehr Mentorinnen und Mentoren, denn mit der Quantität darf die Qualität nicht vernachlässigt werden. Möglicherweise muss man darüber nachdenken, die Ausbildungsverordnung zu verändern. Aber wir werden auch weiterhin auf auswärtige Bewerbungen angewiesen sein.
Sie wollen und müssen Schulpersonal binden. Ein Runder Tisch soll Strategien dazu entwickeln. Dennoch verlassen viele die Seestadt in Richtung Bremen und Niedersachsen. Was ist zu tun?
Wir haben uns in den vergangenen Jahren zugegebenermaßen in der Hauptsache mit Personalgewinnung beschäftigt, haben auf Werbung für Bremerhaven gesetzt. Das aber ist immer weniger erfolgreich, weil auch andere Bundesländer ihre Einstellungskontingente erhöht haben und für sich werben. Dennoch müssen wir weiter werben, um den enormen Bedarf zu decken. Zum neuen Schuljahr waren 110 Stellen zu besetzen, da brauchen wir Personal auch von außerhalb. Daneben müssen wir unsere Strategie ändern und überlegen, wie wir Abwanderung verhindern. Lehrerinnen und Lehrer dürfen nicht aus Unzufriedenheit die Stadt verlassen. Wir haben traditionell eine hohe Anzahl von Freistellungsanträgen, vor allem von Pendlern. Die sozialen Probleme in Bremerhaven sind auch nicht weniger geworden und manche Lehrkraft stellt sich vor, dass es anderswo einfacher wäre zu unterrichten. Das ist eine Illusion. Auch im benachbarten Landkreis Cuxhaven fließt keineswegs nur Milch und Honig, auch dort gibt es soziale Probleme, und das Inklusionskonzept scheint mir nicht so schlüssig und konsequent durchdacht zu sein wie bei uns. Die Faktoren höheres Gehalt oder Verringerung der Unterrichtsverpflichtung können wir aber leider kommunal nicht entscheiden. Da ist das Land gefordert.
Bremerhaven will mit Stipendien angehende Lehrkräfte animieren, in die Seestadt zu kommen und zu bleiben.
Ja, das ist ein mittel- bis langfristiges Instrument für Abiturienten und Studierende. Und es scheint zu funktionieren. Wir wollen jungen Menschen aus der Stadt eine berufliche Perspektive in ihrer Heimatstadt eröffnen. Zehn Stellen waren ausgeschrieben, es gab 50 Bewerbungen.
Warum nicht mehr davon?
Klar muss man das ausbauen, nur ist auch ein sehr teures Projekt. Die Politik hat inzwischen aber signalisiert, dass sie eine Aufstockung unterstützt. Ich hoffe, dass wir die Gesamtzahl der Stipendien von jeweils 10 in den kommenden drei Jahren auf insgesamt 50 aufstocken können.
Wir halten fest: Kurzfristig sind nur schwer Lehrkräfte zu finden, langfristige Überlegungen greifen nicht in den nächsten Jahren. Haben Sie da nicht Angst, dass Ihnen die mehr als prekäre Lage rund um die Bildung um die Ohren fliegt?
Ich setze auf die traditionell gute und konsensorientierte Zusammenarbeit zwischen Verwaltung, Schulen und Elternschaft. In der Krise helfen nur Transparenz und enge Abstimmung der Beteiligten. Allerdings brauchen die Kollegien das deutliche Signal, dass das gesehen wird. Und dass wir für Entlastung sorgen, die Einarbeitung neuer Lehrkräfte stärker unterstützen und Qualifizierungsprogramme ausbauen und die Ausstattung verbessern. Das liegt an uns.
Hört sich gut an. Aber ehrlich gesagt kann ich den Optimismus nicht ganz nachvollziehen, der aus Ihren Worten heraus zu hören ist. In Schulen Ihrer Stadt brauchen Schüler an einigen Tagen gar nicht mehr zur Schule kommen, weil es langfristige Krankheitsfälle gibt.
Unter den gegenwärtigen Voraussetzungen ist es schwierig, einen Vertretungspool aufzubauen. Wenn wir Vertretungskräfte einstellen, ersetzen sie in der Regel langzeiterkrankte Kollegen. Wir müssen deshalb ein Betreuungssystem aufbauen, das auch dann trägt, wenn zusätzliche Ausfälle hinzukommen.
Sie haben keinen Job, der vergnügungssteuerpflichtig ist.
Das ist er sicherlich nicht. Andererseits: Wir haben in den letzten beiden Jahren insgesamt rund 150 Stellen neu besetzt. Wir haben aufgrund des Generationenwechsels rund ein Drittel der Schulleitungsstellen neu besetzt. Mehr als 1.000 zugewanderte und geflüchtete Kinder und Jugendliche lernen in den Bremerhavener Schulen Deutsch. Und: Wir haben den ersten Durchgang der inklusiven Oberschule verabschiedet. Heißt: Es gelingt mehr, als manchmal sichtbar wird.
Stichwort Lehrkräfte-Qualifizierung. Was erwarten Sie konkret vom Land?
Vor allem mehr Flexibilität, mehr Kreativität. Wir werden auf längere Sicht auf Quer- und Seiteneinsteiger angewiesen sein. Vollausgebildete Lehrkräfte stehen nicht ausreichend zur Verfügung.
Flexibilität in diesem Zusammenhang geht häufig zu Lasten der Bildungsqualität.
Nein, es geht nicht um eine Senkung der Bildungsstandards. Wir müssen es schaffen, dass verschiedenste Berufsgruppen für den Einstieg in den Schuldienst weitergebildet werden. Wie zum Bespiel Erzieherinnen möglicherweise in einer Grundschule. Was haben wir denn heute für eine Situation? Wir setzen im Land Bremen Studierende ein und machen uns über die Standards offiziell keine Gedanken.
Ist Ihre Kollegin Claudia Bogedan wenig kreativ?
Nein, aber ich glaube, dass die Not in Bremen noch nicht so hoch ist, wie in Bremerhaven. Hier sind wir eher gezwungen, kreativ und flexibel zu sein. Das Verständnis für die Lage Bremerhavens steigt, und das ist auch notwendig, denn die Abdeckung unseres Personalbedarfs gelingt nur mit Hilfe des Landes und seiner Instrumente.
An welchen drei Baustellen muss jetzt vor allem gearbeitet werden?
Und wann sind die Baustellen fertig?
Über die Baustelle Personal haben wir gesprochen. Bei der Baustelle Schulbau müssen wir in den nächsten vier, fünf Jahren die Kapazitäten massiv vergrößern. Wir brauchen eine zusätzliche Grundschule und eine neue Oberschule. Das ist ein Investitionsbedarf, der für Bremerhaven schwer darzustellen ist. Es geht um einen dreistelligen Millionenbetrag, neben dem Sanierungsstau, den wir zu verzeichnen haben.
Im Bereich Ausstattung fehlen die investiven Mittel. Das geht natürlich nicht so weiter. Auch das ist ein Standortfaktor, mal abgesehen von der Bildungsqualität, die nur dann zu erreichen ist, wenn die Ausstattung entsprechend ist.
Der Kürzungsbeschluss bei den Sachmitteln – das ist ein fatales Signal.
Ja, genau. Das ist dann meine Aufgabe, in der Auseinandersetzung mit Politik darauf hinzuweisen, dass wir uns das nicht leisten können.
Nochmal kurz zurück zur Schulgebäudesanierung – oft auch als »dritter Pädagoge« bezeichnet. Wie schätzen Sie die Sanierungslage ein?
Der Bedarf ist immens. Die Schulen sind in einem unterschiedlichen Zustand. Stück für Stück werden die Probleme angegangen und umgesetzt. Allerdings noch nicht in der Geschwindigkeit, die notwendig wäre.
Auch so ein Satz, der eher frustrierend wirkt.
Die Infrastruktur ist eins der Schlüsselthemen der Zukunftskommission des Senats. Deshalb sehe ich Chancen, dass beide Städte zu strategischen und finanziellen Entscheidungen kommen, wie dem Sanierungsstau begegnet werden kann.
Abschlussfrage: Sie sind Dezernent für Bildung in einer Stadt mit massiven Schulproblemen und gleichzeitig überzeugtes GEW-Mitglied – einer Gewerkschaft, die umfassende Bildungsqualität einfordert. Eine schwierige Doppelrolle.
Ich hoffe, dass die Handlungsspielräume ausreichen, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Dass ich nicht alles umsetzen kann, was aus gewerkschaftlicher, bildungspolitischer Sicht sinnvoll und notwendig wäre, das ist so. Das muss ich aushalten. Und ich muss Finanzknappheit verteidigen – auch das. Anderes dagegen gelingt sehr wohl: Nehmen Sie die inklusive Oberschule, die in Bremerhaven flächendeckend umgesetzt wurde. Die Abschaffung von Notenzeugnissen bis zur 8. Klasse. Das sind Reformschritte, von denen andere Kommunen nur träumen können.
Was mich wirklich umtreibt, ist, mit Situationen umgehen zu müssen, die ich nicht beeinflussen kann. Ich kann zum Beispiel niemanden zwingen, Lehrerin oder Lehrer zu werden. Dabei ist das weiterhin ein großartiger Beruf!