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Religionskritik

Die Austreibung der Dämonen

Historisch-kritisches Denken gegen religiöse „Radikalisierung“

Illustration: Martin Krämer

In den letzten Jahren werden Lehrkräfte durch ihre „Zöglinge“ verstärkt mit religiösen Äußerungen konfrontiert, die einen geistigen Rückfall um mindestens dreihundert Jahre anzeigen.  Wortwörtliche Geltung heiliger Texte gilt da als selbstverständlich, als ob es die philosophischen Einsichten Spinozas, Kants oder Lessings nie gegeben hätte. Die Existenz von, sagen wir, Dämonen wird im Brustton der Überzeugung verkündet, gelegentliche Exorzismen inklusive. Um die vom Teufel Besessenen zu identifizieren, wird eine unfehlbare Methode propagiert: Man lasse den Muezzin erschallen, und sie laufen schreiend davon. Ähnliche Ideen kursieren auch in christlichen Fassungen, da sind es dann vermutlich die Kirchenglocken. Online-Prediger, überwiegend männlich, versorgen Jugendliche mit allen einschlägigen Textstellen, wo Homosexualität verdammt wird. Zu konstatieren ist überdies eine enorme Beliebtheit von „Zahlenwundern“ in Bibel und Koran. Die auf sozialen Medien und durch konservative Verbände angestoßene ideologische Offensive trägt offenbar - vergiftete - Früchte. In Zeiten, wo amerikanische Evangelikale das Recht auf Abtreibung abschaffen, russisch-orthodoxe Popen Raketen segnen, die iranische Sittenpolizei junge Frauen totschlägt, viel Geld aus Riad und Istanbul für missionarische Zwecke fließt, liegt die Gefahr einer Instrumentalisierung unaufgeklärter Religiosität für politische Zwecke auf der Hand. Der Gazakrieg dürfte dem ohnedies gut ausgestatteten missionarisch-industriellen Komplex eine unverhoffte Hochkonjunktur beschert haben. 

Pädagogische Hilflosigkeit

Lehrkräfte berichten, sie stünden perplex, gar schockiert vor derlei Aussagen. Ihnen fehlen bisweilen die Worte, unter anderem weil sie, selbst zumeist säkular sozialisiert, mit den zugrundeliegenden theologischen Konzepten sowie den zugehörigen Schriften nicht mehr vertraut sind, ihnen also keine unmittelbare Antwort einfällt. Zu diagnostizieren ist in liberalen Milieus, aus denen viele Lehrende kommen, das Vorhandensein zwar einer „antiklerikalen“ Intuition, der es jedoch an konkretem Wissen fehlt, um in religiösen Auseinandersetzungen Fakten und Argumente parat zu haben. Im schlechtesten Fall ist die Reaktion eine moralische: So etwas könnt ihr doch - heutzutage - nicht mehr denken! Und der zeigefingernde Verweis aufs Grundgesetz - wenngleich in der Sache berechtigt - verkommt zur autoritären Geste, wird er nicht inhaltlich unterfüttert. Derartige Einlassungen dürften lediglich den Trotz der so Angesprochenen provozieren. Eine Alternative könnte in der Einübung historisch-kritischen Denkens bestehen. Schließlich hat die Forschung in den letzten hundert Jahren eine Fülle an Einsichten hervorgebracht, die es erlauben, Bibel und Koran in gesellschaftlichen Kontexten zu verankern, historische „Kerne“ von mythischer Überhöhung zu scheiden und religiöse Wahrheitsansprüche zumindest soweit in die Schranken zu weisen, dass Glaube als Privatsache akzeptiert wird. Die Thematik lässt sich nicht exklusiv den Fächern Philosophie oder Religion aufbürden - letztere ist in den meisten Bundesländern zudem unter kirchlichem Einfluss und geht, im Bestreben, niemandes religiöse Gefühle verletzen zu wollen, oft übermäßig rücksichtsvoll mit dem Gegenstand um. Daher sollten auch Unterrichtende in anderen Fächern sich eine Art von religionskritischem Grundwissen - wieder - aneignen. Kritische Textanalyse, historische und archäologische  Befunde sowie Sozialpsychologie greifen dabei ineinander.

Sintflut als Modell

Nehmen wir die Geschichte von der Sintflut. Sie eignet sich als greifbarer, da relativ voraussetzungsloser Einstieg in das Thema der Quellenkritik. Die Erzählung vom großen Schiff, das ein auf Kollektivbestrafung der Menschheit versessener Gott seinem Getreuen Noah zu bauen aufträgt, ist nicht nur in jüdischer und christlicher, sondern auch in muslimischer Tradition wohlgelitten, wo sie Eingang in den Koran gefunden hat. Naiv Gläubige gehen von der Einzigartigkeit der Geschichte aus, nicht zuletzt aufgrund ihres „geoffenbarten“ Charakters. Vergleicht man jedoch die betreffende Passage aus der Genesis mit entsprechenden Stellen im Gilgamesch-Epos, so springen erstaunliche Parallelen ins Auge. Auch dort wird einem Gerechten der Bau eines Schiffes aufgetragen, nimmt er Tiere mit an Bord, erfolgt eine tödliche Flut. Frappierend ist die Übereinstimmung in Details: So wie Noah verwendet sein Gegenpart Utanapishti Vögel, um zu testen, ob sich die Wasseroberfläche abgesenkt hat; fliegen diese zur Arche zurück, ist das Land noch überflutet. Bleiben Sie fort, muss es wieder bewohnbar sein. Evident wird an dieser Stelle, dass eine der beiden Erzählungen sich bei der anderen bedient haben muss. Und zwar wohl die Bibel beim deutlich älteren assyrischen Epos, oder beide bei einer noch früheren, mündlich tradierten Variante. Das Motiv einer apokalyptischen Flut ist überdies in vielen Mythen des mesopotamischen Kulturraumes auffindbar, natürlich in Abwandlungen. Im Gilgamesch ist es in einen polytheistischen Kontext eingebunden: Obwohl der oberste göttliche Rat den Untergang der frechen Menschenbrut beschlossen hat, steht ein dissidenter Gott ihr bei und überbringt heimlich die rettende Warnung samt nautischer Bauanleitung. Prometheus lässt grüßen.

Widersprüche im Text

Der nächste Schlag gegen den Glauben an die absolute Historizität der biblischen Berichte folgt sogleich, nämlich durch die Demonstration von Widersprüchen innerhalb der Noah-Geschichte - etwa unterschiedlichen Zeitangaben für die Dauer des Geschehens. Tatsächlich ist die gesamte Schöpfungsgeschichte der Genesis von zwei sich aneinander reibenden Handlungsfäden durchzogen, stammend aus unterschiedlichen Federn. In der einen muss Noah jeweils ein Paar, in der anderen jeweils sieben Paare aller „reinen“ Tierarten in die Arche verfrachten. Die Inkonsistenzen im Buch Genesis sowie in der ganzen Bibel erschlossen sich bereits in der frühen Neuzeit aufgeklärten Köpfen. Der Philosoph Baruch de Spinoza wird im 17. Jahrhundert zum Ahnvater jener Disziplin, die den Text nunmehr unvoreingenommen liest - nicht mehr durch den Filter von Wunderglauben, Unfehlbarkeit oder theologischer Dogmatik. So kommt man zu nüchternen Einsichten: Etwa müsste Moses, über Jahrtausende als Autor der gleichnamigen Bücher gehandelt, von seinem eigenen Tod berichtet haben und ähnliches mehr. Heute ist der heilige Text zu einer Landschaft geworden, die mithilfe von Stilbrüchen, Dubletten, Querverweisen, Widersprüchen und Schichten wechselnden hebräischen Vokabulars kartiert, datiert und in Erzählstränge aufgeteilt wird. Welche Passage jeweils welcher „Quelle“ zuzuordnen ist, ist weiterhin Gegenstand lebendiger Diskussion, kein Zweifel besteht indes an der Vielstimmigkeit eines Werkes, das, über Jahrhunderte entstanden, gleichermaßen Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse wie theologisch-politischer Intentionen ist.

Lob der Archäologie

Schließlich tritt die Statthalterin der Empirie in der Religionswissenschaft, die Archäologie, auf den Plan. Denn, um auf die Sintflut zurückzukommen: Ein weltweites Massensterben müsste an einer Hinterlassenschaft zeitgleich untergegangener, datierbarer fossiler Überreste in signifikantem Ausmaß ablesbar sein, was natürlich nicht der Fall ist. Die Sintflut erweist sich endgültig als Mythos, nicht zufällig entstanden im Zweistromland, dessen Flußklima regelmäßig Überschwemmungen produzierte. Für die Betroffenen ging dann stets die Welt - ihre Welt, eine andere kannten sie nicht - unter. Methodisch kann die Thematik der Sintflut also auch zum ‚Erkenntnismodell‘ für die Entstehung von Legenden um größere oder kleinere historische Kerne herum werden. Analog ließen sich andere religiöse Erzählungen auf ihre archäologische Stichhaltigkeit hin befragen. Systematisch hat das u.a. übrigens Israel Finkelstein getan, einer der führenden israelischen Archäologen. In „Keine Posaunen vor Jericho“ zog er zusammen mit seinem Kollegen Silberman eine Bilanz der archäologischen Forschung in Israel und Umgebung im Verlauf der letzten hundert Jahre und versuchte auf dieser Grundlage den historischen Kern des biblischen Narratives freizulegen. Obgleich die englische Originalausgabe bereits 2001 erschien, hat das Werk nicht an Aktualität eingebüßt. 

Daraus ließen sich etliche Fallbeispiele für den Unterricht präparieren. Erhellend ist etwa die Rolle der Kamele im Text der Genesis. Sie oder vielmehr ihre Überreste können als Forschungsobjekte Licht ins Dunkel der archaischen biblischen Berichte bringen. Die Schilderung jener nomadisch umherziehenden israelitischen Stämme unter Führung ihrer frühesten Propheten ist von Lasten tragenden Kamelherden bevölkert. Untersuchungen von Knochenfunden und Karawanenberichte belegen eine solche Verbreitung der Zuchttiere laut Finkelstein erst für das siebte Jahrhundert vor Christus, während gemäß den biblischen Zeitangaben sich das Geschehen etliche Jahrhunderte davor abgespielt haben müsste. Es handelt sich um einen klassischen Anachronismus: Wer immer die mündlich tradierten Berichte im siebten Jahrhundert verschriftlicht hat, zog zur Ausschmückung Erscheinungen der eigenen Lebenswelt heran und projizierte sie dadurch auf die Vergangenheit. 

Gottes Gebote 

Kaum ein Schnipsel religiöser Weltliteratur hat soviel popkulturelles Geschwätz heraufbeschworen wie die wundersamen „Zehn Gebote“. Sie tauchen als pathetisches Requisit in so mancher Sonntagsrede auf, meist verbunden mit der Behauptung, Frieden wäre längst auf Erden eingezogen, hätte die Menschheit sich nur an die zehn „einfachen“ Vorgaben gehalten. Implizit wird durch die Behauptung ihrer Einzigartigkeit der vermeintliche Offenbarungscharakter jener Gebote bekräftigt, als ob sie durch göttlichen Willen präzedenzlos in die menschliche Geschichte herabgefallen wären. Dagegen arbeitet die historisch-kritische Forschung an, indem sie aufzeigt, wie sich im Dekalog die Rezeption älterer Gesetzestexte niedergeschlagen hat, zum Beispiel derjenigen des assyrischen Königs Hammurabi. Überhaupt dürfte den wenigsten, die in Talkshows damit reüssieren, bewusst sein, dass der altehrwürdige Text Sklaverei, Patriarchat und das Prinzip der Kollektivschuld supponiert. Um so reizvoller ist es, ihn als Quelle im Unterricht wirklich einmal nüchtern zu lesen. 

Eine ernüchternde Lektüre

Einsteigen ließe sich dabei mit der Frage, an wen die ganzen Vorschriften eigentlich adressiert sind. Befreit man sich von theologisch gefärbten Voreinstellungen, so handelt es sich textimmanent weder um Judentum, Mensch- oder Christenheit, vielmehr schlicht um jene israelitischen Stämme, die von Gott aus Ägypten befreit wurden und sich nun weiterhin seines Schutzes erfreuen wollen. Der zu diesem Zweck geschlossene Vertrag beinhaltet eben jene und noch viele weitere Klauseln, die eingehalten werden müssen, damit der göttliche Pate seine schützende Hand, vorzugsweise gegenüber fremden Stämmen, weiterhin bereit hält. Das wird später etwa anlässlich der Okkupation Kanaans geschehen, wo Jahwe seinen Beitrag zur Ausrottung der dort lebenden Eingeborenen leistet, getreu der Direktive: „Jedoch von den Städten dieser Völker, die der HERR, dein Gott, dir gibt, sollst du nichts leben lassen, was Odem hat (...).“ (Mose, 20: 16:18). An anderer Stelle werden die Opfergruppen konkretisiert: Nicht lediglich Männer, Frauen, Kinder und Säuglinge, auch Kamele und Esel sind zu exekutieren (1. Samuel). Übrigens widerspricht dies anderen Aussagen der Bibel und der historischen Realität. Finkelstein erläutert, warum die Besetzung der israelitischen Siedlungsgebiete weniger genozidal vonstatten ging, als die martialische Kriegsrhetorik der Heiligen Schrift uns glauben machen will: Jene später unter dem Namen Israel auftretenden Gruppen konstituierten sich auf dem bergigen Hochland Kanaans und infiltrierten von dort langsam und nicht unbedingt immer kriegerisch die Siedlungen in der Ebene.

Du sollst dir deine Sklaven und Frauen nicht rauben lassen!

Doch auch an die Mitglieder der „zwölf Stämme“ richtet sich der Text nicht durchgängig. Gewiss ist im Verbot des unerlaubten Tötens - mit dem erlaubten hatte Gott ohnehin keine Probleme - ein abstraktes „Du“ angesprochen. Wie verhält es sich indessen bei folgendem Satz: „Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren. Du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren, nicht seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel oder irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.“ Adressat ist niemand anderes als der patriarchale Hausherr; Frauen und Sklaven fungieren als Objekte in seinem lebenden Besitz. Das Gebot spiegelt die Wirklichkeit der zeitgenössischen Herrschaftsverhältnisse wider, so, wie es ein Text, der von Menschen geschrieben wurde, erwarten lässt. Die bedeutsamste Vorschrift steht übrigens, logischerweise, am Anfang: Der eifersüchtige Jahwe fordert Monolatrie. Nur ihm dürfen Tempel gebaut und Opfergaben gegeben werden. Er rächt sich für Zuwiderhandlungen an den Söhnen und deren Söhnen, bis ins vierte Glied. Dass Kinder für die Taten ihrer Eltern bestraft werden, muss Zumutung für all jene sein, die ans moderne Prinzip der individuellen Schuld gewöhnt sind. Etliche Seiten später lässt das Buch Jeremia Gott sagen, jeder „sterbe nur für eigene Schuld“ (Jer. 31:30). Manchmal erhebt die heilige Schrift in ihrer Vielstimmigkeit sich über den historischen Kontext, meistens entspricht sie ihm, nicht selten sinkt sie unter sein Niveau. Es gilt also, sie weder zu verteufeln noch zu idealisieren, sondern konsequent zu historisieren. Humanität, dies wird dadurch vielleicht klar, ist eine Errungenschaft der Moderne; die Erklärung der Menschenrechte mag durch religiöse Impulse mit inspiriert sein, musste aber und muss gegen den Wortlaut von Bibel und Koran und deren weltliche Statthalter verteidigt werden. Im Unterricht historisch-kritisch denken zu lernen, kann im Idealfall das wecken, was Brecht die „Lust des Erkennens“ genannt hat. Sollte bei Strenggläubigen zumindest die Saat des Zweifels gesät worden sein, wäre auch viel gewonnen. 

Empfohlene Literatur:

  • Finkelstein, Israel/Silberman, Neil A.: Keine Posaunen vor Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel. 2004. Deutscher Taschenbuchverlag München.
  • Bima-Redakteur Pfau möchte sich intensiver mit der Anwendung historisch-kritischer Methoden im Unterricht beschäftigen und sucht dafür andere GEW-Mitglieder, die sich eventuell in eine Arbeitsgruppe einklinken wollen. Kontakt: info [at] gew-hb [dot] de zu Händen Werner Pfau