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Arbeits- und berufsbedingte Erkrankungen

»Die Arbeit des Körpers«

Ein vernachlässigtes Thema

Die aktuellen Ereignisse in Chemnitz - und auch anderswo - machen mich traurig, aber auch nachdenklich. In der großen und unbedingt lesenswerten Studie von Arlie Russel Hochschild „Fremd in ihrem Land“ beschreibt die Autorin den Gemütszustand der weißen rechtsorientierten Bevölkerung in Louisiana. Die
Menschen dort haben jahrzehntelang hart gearbeitet, viele haben sich krankgearbeitet, manche sind vielleicht zu ein wenig Wohlstand gekommen, und doch fühlen sie sich nicht gewürdigt, von der intellektuellen Elite ignoriert oder gar verachtet, abgehängt und überholt von farbigen Menschen, solchen wie Obama, die offenbar spielend Schule und Universität absolvieren, Institutionen, die für sie als Arbeiter/innen immer schon ein Graus, zumindest mit vielen Problemen behaftet waren.
Auch wenn die prozentualen Relationen der gefühlten Wirklichkeit nicht mit den realen Fakten übereinstimmen, so spürte Hochschild bei den weißen Arbeiter/innen und Kleingewerbetreibenden einen tiefsitzenden Groll: Ihre geschundenen Körper waren erfüllt von Verzweiflung, die sich in Zorn und Hass -
irrational - auf alles für sie Fremde verwandelte.

Ignoranz
Ich habe 1997 nach der Werftschließlung in Bremen Nord und noch einmal zehn Jahre später in Tiefeninterviews mit ehemaligen Werftarbeitern die gleiche Erfahrung gemacht. Mein Eindruck war schon damals, noch vor der Jahrtausendwende, dass eine neoliberal und entsprechend auch ideologisch auf äußeren Erfolg ausgerichtete Arbeitsgesellschaft körperliche Arbeit und körperliche Arbeitsschäden ignoriert oder gar als Ausdruck des Lebens minderwertiger Bevölkerungsteile abqualifiziert.
Und dieses Gefühl der Arbeiter war so unrealistisch nicht. Mir sagte damals ein Buchhändler im Ostertorviertel, als ich ihm mein Buch über die Arbeitserkrankungen der ehemaligen Vulkan-Arbeiter anbot: „Für die Asbestlungen der Vulkanesen interessiert sich hier im Viertel kein Mensch, das kannst Du vergessen!“
Ja, das ist unser aller Problem. Viele „Gebildete“ sehen erhaben über die Sorgen und Nöte, die Berufskrankheiten und den frühen Tod der Arbeiter/innen, der kleinen Handwerker, der kleinen Leute eben, vornehm oder gar dünkelhaft hinweg. Das rächt sich jetzt.

Verschleiß
Auch in unseren Schulen werden die Probleme der Arbeiterklasse zumeist nur als Probleme des 19. Jahrhunderts abgehandelt, und selbst das oft nur mangelhaft.
Meine Sicht der Dinge möchte ich hier kurz andeuten: Zum einen ist der allgemeine Wohlstand, auf dem wir hierzulande leben, auf massenhaftem körperlichen Verschleiß der arbeitenden Massen aufgebaut. Wenn man sich alleine einmal die 100 Jahre Ruhrbergbau - von 1870 bis 1970 – genauer anschaut - es gab Jahre mit mehr als 1.000 Unfalltoten im deutschen Bergbau - verflüchtigen sich alle romantischen Verklärungen, und Konturen der brutalen Realität wer- den sichtbar. Zum anderen leben wir heute keinesfalls in einer heilen Welt ohne arbeits- und berufsbedingte Erkrankungen. Ganz im Gegenteil:
Davon abgesehen, dass auch die angeblich geistigen Berufe einem hohen psychischen und damit, über psychosomatische Wege, auch einem körperlichen Verschleiß unterliegen, sehen oder spüren wir täglich - wenn wir Augen und Herzen öffnen würden - tausendfach elende Arbeitsbedingungen wie eh und je, nur, dass diese gesellschaftlich exterritorialisiert sind: Leih- und Fremdarbeiter/innen aus Osteuropa hierzulande, Arbeiter/innen in der Textil- und Elektroindustrie in Asien, ohne deren Arbeit wir fast ins Mittelalter zurückversetzt wären.

Klassengesellschaft
Mich beschäftigt - als kritischer Arbeitswissenschaftler - schon lange die Frage, ob und wie sich diese Zusammenhänge einmal umfassender darstellen lassen. In meinem Buch „Die Arbeit des Körpers“ (Mandelbaum-Verlag, Wien 2018) habe ich die verschiedenen Fakten und Kontexte zur Geschichte der Arbeitsbedingungen und des körperlichen und geistigen Verschleißes von der Hochindustrialisierung in Deutschland und Österreich bis zur neoliberalen Gegenwart zusammengetragen und festgehalten. Es ist eine „Geschichte von unten“, d.h. eine Studie, die von den Erfahrungen, der Leiblichkeit, dem Leiden, dem Klagen, aber auch dass Aufbegehren der arbeitenden Menschen ausgeht. Darin versuche ich auch zu zeigen, dass der Reputationsverlust der körperlichen und der sogenannten „einfachen“ Arbeit bei den Betroffenen Enttäuschung, Wut und Zorn hervorruft. Die Klassengesellschaft ist keinesfalls überwunden, nein, sie konstelliert sich weltweit und quer durch unser Land neu. Es bilden sich Klassenkörper heraus, sowohl individuelle, im wahren Sinne des Wortes, als auch soziologisch im übergeordneten Sinne. Aus körpergeschichtlicher Sicht befinden wir uns hierzulande wie weltweit in einer Umbruchsituation, die uns zwingt, über Menschenwürde nachzudenken, jenseits von Leistung und Erfolg, d.h. auch über eine menschenwürdige Organisation von Gesellschaft, in der jeder Mensch, auch wenn er kein Startup-Unternehmen gründen möchte, die Anerkennung erfährt, die ihm als Mensch gebührt.
Es wäre wünschenswert, wenn ich mit meinem Buch, vielleicht auch als Hintergrundlektüre für den Unterricht, dazu beitragen könnte, die aktuelle Dringlichkeit des Themenbereichs Arbeitserfahrungen, Leiblichkeit, Krankheit, Gesundheit und Gesellschaftlichkeit aufzuzeigen.