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Der vergessene Jahrestag der Okkupation

Fünfzig Jahre währt die Besetzung der palästinensischen Gebiete

„Ein Staat, der über eine fremde Bevölkerung von 1,5 bis 2 Millionen Menschen herrscht, 
würde zum geheim operierenden Polizeistaat werden, mit all dem, was das für Erziehung, freie Rede und demokratische Institutionen bedeutet.“
Jeshajahu Leibovitz, 1967

„Diese aggressive und brutale Behandlung der Palästinenser stammt aus einem Standpunkt, dass je brutaler man ist, desto mehr respektieren sie dich.“
Gil Helal, über ihren Einsatz als Militärpolizistin in den besetzten Gebieten, Stellungnahme für Breaking the Silence, 2013

Von der Anerkennung Jerusalems als israelischer Hauptstadt durch die USA fühlt sich die israelische Rechte ermutigt. Im Likud wird die Annexion von Teilen des Westjordanlandes gefordert. Der Sechstagekrieg, der im Jahr 2017 ohne große öffentliche Aufmerksamkeit sein 50jähriges Jubiläum 'feierte', wäre damit endgültig zum Eroberungskrieg geworden.

Sechs-Tage-Krieg und Siedlungsprojekt
Überraschend schnell gewann Israel diesen Krieg in den ersten Juni-Tagen des Jahres 1967. Als Ergebnis fielen ihm diejenigen palästinensischen Territorien in die Hände, die nach dem Staatsgründungskrieg 1949 noch unabhängig gewesen waren. Seitdem ist in letzter Instanz die Kontrolle darüber nicht mehr aufgegeben worden. Was im sog. Friedensprozess der Neunziger Jahre angeboten und teilweise verwirklicht wurde, nennt sich nicht ohne Grund Selbstverwaltung, denn volle staatliche Souveränität für die palästinensische Seite und ein völliger militärischer Rückzug aus den eroberten Gebieten war nie Verhandlungsgegenstand, allenfalls als fernes Endziel. 
Den medienwirksam aufgelösten illegalen jüdischen Siedlungen stehen andere gegenüber, die staatlicherseits legal sind, von der israelischen Armee bewacht werden und deren Auflösung gar nicht zur Debatte steht. Die markantestes Beispiele liegen in Ost-Jerusalem, dem arabischen Teil der Stadt, der 1967 ebenfalls okkupiert und mittlerweile offiziell annektiert wurde. 300 000 Menschen wohnen in den jüdischen Siedlungen dieser Region. Im UN-Teilungsplan von 1947 war Jerusalem als Hauptstadt nie vorgesehen, geschweige denn unter Einschluss des arabischen Teils. Ebenso wenig im Abkommen über den Waffenstillstand von 1949. Die Annexion gründet sich auf überlegene militärische Gewalt – und ideologisch auf jene nationalistische Interpretation der Bibel, die lange eine Spezialität der Nationalreligiösen in Israel war, mittlerweile jedoch droht, zu einem Element des hegemonialen Diskurses zu werden, forciert durch den Likud und die Siedlerpartei, die mit am Kabinettstisch Netanjahus sitzt. So ganz fremd waren Teilen der zionistischen Bewegung solche Gedanken auch früher nicht. Einen exklusiven, wenn auch nicht religiös begründeten Rechtsanspruch auf ganz Palästina formulierte etwa bereits Ze'ev Jabotinsky, Vordenker der heutigen Rechten, in den Zwanziger Jahren, wurde dafür aber auch von Leuten wie David Ben Gurion als „Faschist“ bezeichnet.

Die Siedlerbewegung...
Die Siedlungen in Ost-Jerusalem oder im Westjordanland wurden nicht zur Abhaltung religiöser Exerzitien am heiligen Ort gegründet; die Siedelnden sind gekommen, um Land, das „ihnen“ schon einmal vor zweitausend Jahren gehörte, auf göttlichen Auftrag hin von Fremdherrschaft zu „erlösen“, wie sie es nennen. Mit dem Gründungszweck des Zionismus, Menschen jüdischer Herkunft ein Leben ohne Antisemitismus zu ermöglichen, hat das wenig zu tun. Dieser Meinung war übrigens auch der vormalige Premierminister Itzhak Rabin, der die Nationalreligiösen 1994 als „Schmach für den Zionismus und Schandfleck für das Judentum“ bezeichnete. Ein Jahr später wurde er von einem Attentäter aus eben diesen Kreisen ermordet. Deren Ideologie und Methoden hat die Historikerin Idith Zertal in einer eingehenden Studie untersucht. Aus dieser stammt auch das Zitat. Gershom Gorenberg hat das politisch-ideologische Netzwerk und die Theologie der Siedlungsbewegung analysiert, für die radikale Rabbiner als Stichwortgeber fungieren. Er schreibt: „Die neue Doktrin verkürzte den universellen Gehalt der jüdischen Moral und machte den militanten Nationalismus zu einem Pfeiler des Glaubens.“
Die Vorstellung, politische Grenzen müssten wieder wie vor zweitausend Jahren gezogen werden, gehört ins Horrorkabinett eines ethnischen Nationalismus. Exklusive, bruchlose Ethnizität kann nur künstlich konstruiert werden, und das gilt auch für Israel, wie der Historiker Shlomo Sand gezeigt hat: So mancher nationalreligiöse Siedler, der sich „sein“ Land zurückholen will, hatte womöglich niemals Vorfahren in dieser Gegend – sondern vielleicht im jüdischen Chasarenreich des neunten Jahrhunderts an der Wolga. Umgekehrt kann niemand widerlegen, dass die Urahnen der palästinensischen Bevölkerung bis zu den biblisch verbürgten „Philistern“ zurückreichen, wofür beispielsweise die Etymologie des arabischen Wortes „Filastin“ spricht. Aber unabhängig von derlei inneren Widersprüchen gilt: Es wäre sowieso völkischer Wahnsinn, die Welt nach dem Abstammungsprinzip einzurichten. 

...und ihr Aufstieg
Nachdem der Sechstagekrieg sich wesentlich gegen Ägypten und Jordanien gerichtet hatte, war die militärische Kontrolle über palästinensisches Gebiet eher eine Art Nebenprodukt des Sieges, unerwartet auch für die politische Führung in Tel Aviv. Entgegen einer Empfehlung des Mossad, der eine baldige Rückgabe angeregt haben soll, behielt man die Gebiete, um die PLO zu schwächen und Verhandlungsmasse für eine spätere Neuordnung der Region zu haben. Annexionsideen wurden in der politischen Führung diskutiert, doch letztendlich verworfen. Zum Siedlungsbau kam es tatsächlich eher von unten, durch den Aktivismus einer nationalreligiösen Graswurzelbewegung. Während die israelische Linke die zunächst illegal gebauten Außenposten misstrauisch betrachtete, waren Teile von Militär und Staatsapparat für die Idee eines Groß-Israels über die Grenzen des UN-Teilungsplans hinaus empfänglich. Laut Gorenberg war es die sozialdemokratische Arbeitspartei, die den Weg zur Legalisierung ebnete. Als später mit Begin der Likud zum ersten Mal das Ruder übernahm, wurde der Siedlungsbau durch massive staatliche Unterstützung vorangetrieben. Die heute regierende Rechte kann die Ernte einfahren und sich auf die Siedlungen als vollendete Tatsachen zur Untermauerung ihres Gebietsanspruchs berufen. Soziologin Eva Illouz beklagt, dass „die Besatzung die moralische Sensibilität der Israelis abgestumpft“ habe. 

Öffentliche Stimmung
Ein Beleg dafür könnte der öffentliche Umgang mit Vorgängen wie diesem sein: Ein israelischer Soldat hatte im Frühjahr 2016 einen verletzt und regungslos am Boden liegenden palästinensischen Angreifer mit Kopfschuss gezielt getötet, was durch die Menschenrechtsorganisation B'Tselem mithilfe eines Videos bekannt gemacht wurde. Die Armee stellte ihn vor Gericht. Dies wurde zum Anlass empörter Reaktionen vor allem regierungsnaher Stimmen: Der Soldat habe recht gehabt, mit einem Terroristen kurzen Prozess zu machen. An vorderster Front: Erziehungsminister Naftali Bennett von der Siedlerpartei. Im vielsagenden Kontrast dazu folgende Begebenheit aus dem Besatzungsgebiet: Im Dezember 2017 wurde die 16-jährige Ahed Tamimi gefilmt, wie sie israelische Soldaten ohrfeigt. Hintergrund: „Die Auseinandersetzungen begannen 2009, als die Bewohner von Nabi Saleh dagegen protestierten, dass ihnen Land und Quellen genommen wurden für den Ausbau der jüdischen Siedlung Halamish“, wie die Süddeutsche schreibt. Aheds Bruder war bei einer Demonstration von israelischen Einsatzkräften erschossen worden. Angeblich sei ihrer Tat eine Hausdurchsuchung des Militärs vorausgegangen. So wurde das Mädchen wütend und provozierte einige Soldaten mit Tritten und Ohrfeigen, die von diesen professionell abgewehrt wurden. Mittlerweile wurde sie wegen Körperverletzung vor Gericht gestellt. Und Bennetts Kommentar dazu lautete, sie solle ihr Leben im Gefängnis verbringen.

Schutz vor Terrorismus?
Heute wird als Grund dafür, warum die israelische Armee nicht abziehen könne, oft darauf hingewiesen, dass die besetzten Gebiete zur Brutstätte von Terror geworden sind. Denn mit der Hamas ist in Gaza eine Kraft am Ruder, die das Ziel der Vernichtung Israels nicht wirklich aufgegeben hat und dabei vom Iran und Qatar unterstützt wird. Zu recht heißt es, dass unter israelischer Herrschaft mehr an persönlicher Freiheit herrscht, als unter einem Mullah-Regime islamistischer Provenienz herrschen würde. Der Beschuss israelischer Grenzstädte durch die Hamas dürfte dem Ziel dienen, bei der anderen Seite Gegenreaktionen zu provozieren, denn Organisationen wie sie nähren sich vom Krieg, und der will geschürt sein. So wenig also ein sofortiger Abzug ohne entsprechende Garantien nützen dürfte, so sehr es eines politischen Prozesses bedürfte, so absurd ist es gleichzeitig, die ganze Besatzung mit der Existenz des militanten Islamismus rechtfertigen zu wollen, denn das verdreht Ursache und Wirkung: 1967 gab es noch keine Hamas, diese wurde erst 1987 gegründet. Schon zwanzig Jahre vor ihrer Gründung begann die Beherrschung und sukzessive Besiedlung der okkupierten Territorien. Niemand muss ein „stabiles Genie“ sein, um zu begreifen, dass die militärische Kontrolle, ökonomische Abhängigkeit und entsprechende Perspektivlosigkeit, welche damit der palästinensischen Bevölkerung auferlegt waren, einen günstigen Nährboden für todessüchtige Propaganda islamistischer Couleur abgibt und nicht gerade zur Säkularisierung einer feudal geprägten muslimischen Gesellschaft beiträgt. Wer sich ein Bild vom Alltagsleben unter der Besatzung machen möchte, möge sich den Dokumentarfilm 'Checkpoint' (2003) von Yoav Shamir ansehen, der ein Gefühl für die Allgegenwart militärischer Kontrolle vermittelt.

Gegenstimmen
Das Besatzungsregime war auch in Israel umstritten. Die eingangs zitierten Worte stammen von Jeshajahu Leibovitz, der 1934 auf der Flucht vor den Nazis in Palästina eingewandert war, als Biologe an der Hebrew University arbeitete und später zum prominenten Kritiker israelischer Außenpolitik wurde. Selbst orthodoxer Jude, war Leibovitz zugleich scharfer Gegner der Verknüpfung von Religion und Nationalismus: „Verfälschte Religion setzt nationale Interessen mit dem Dienst an Gott gleich und verleiht dem Staat – der nur ein Instrument zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ist – einen religiös begründeten höchsten Wert“. 
Auch diverse Intellektuelle aus linken und säkularen Zusammenhängen engagierten sich spätestens nach dem Sechstagekrieg in friedenspolitischen Zusammenhängen. Pars pro toto sei Uri Avnery genannt, ebenfalls als Flüchtling vor dem Faschismus nach Palästina eingewandert, wo er zunächst im Unabhängigkeitskrieg 1948 gekämpft hatte. Der Schriftsteller und Journalist beteiligt sich an Initiativen wie Gusch Schalom, die für Verständigung und die Zwei-Staaten-Lösung eintreten. Die Organisation fordert übrigens einen Boykott von Produkten aus den besetzten Gebieten. Avnery hatte der israelischen Regierung 1967 vorgeschlagen, die palästinensische Bevölkerung beim Aufbau eines Staates zu unterstützen: Dies wurde vom damaligen Ministerpräsidenten Eschkol mit 'höflicher Ironie' (Avnery) zurückgewiesen. „So wurde eine historische Chance verspielt“, lautet Avnerys Fazit. 
Heutzutage kämpfen Gruppen wie die Menschenrechtsorganisation B'Tselem für zumindest die Einhaltung von humanitären Standards durch die Armee. Und in der Initiative Breaking The Silence berichten ehemalige Armeeangehörige, welche Traumata sie im Rahmen ihrer Einsätze anderen zugefügt, dadurch aber auch selbst erlitten haben. Das zweite Zitat von oben stammt aus diesem Kontext. Nach einem aus Russland und der Türkei wohlbekannten Muster werden solche Gruppen von der Regierung als fünfte Kolonne des Auslands angefeindet.

Zwischenbemerkung, leider nötig
Herrschte in den Siebziger Jahren unter dem Zeichen des Anti-Imperialismus eine weitgehende Identifikation mit der PLO vor, so ist diese mittlerweile zum Gegenstand teilweise berechtigter Kritik geworden. Kritische Solidarität, oft beschworen, entpuppte sich eher als unreflektierte Revolutionsromantik: Irre hätte am palästinensischen Befreiungsnationalismus etwa werden können, wer die Ereignisse um die Entebbe-Entführung verfolgte. Bei der Entführung eines französischen Passagierflugzeuges 1976 durch die PLFP kam es zu einer „Selektion“ jüdischer von nicht-jüdischen Geiseln – nicht nur Menschen mit israelischer Staatsangehörigkeit, auch über zwanzig andere, denen von der Entführergruppe jüdische Abstammung zugeschrieben wurde, blieben im Flugzeug, während der Rest frei kam. Zumindest die verantwortliche PLFP konnte also nicht zwischen dem Kampf gegen die israelische Regierung und Antisemitismus unterscheiden; ihre deutschen Unterstützer eben so wenig, denn zwei Mitglieder der Revolutionären Zellen waren an der Aktion beteiligt. Einer der separierten französischen Juden war Häftling in Auschwitz gewesen – er wurde jetzt ein weiteres Mal „selektiert“, diesmal von Leuten, die sich für sozialistische Revolutionäre hielten. Die Aktion markiert zweifellos einen Tiefpunkt deutscher Palästina-Solidarität. Ein weiteres Schlaglicht auf dieses Kapitel wirft die Tatsache, dass nicht nur Angehörige der RAF, sondern 1980 auch die rechtsradikale Wehrsportgruppe Hoffmann in Beirut, unter Kontrolle der PLO, einen Rückzugs- und Trainingsraum angeboten bekam. Seit den Neunziger Jahren ist dieser verdeckte oder offene Antisemitismus zu recht kritisiert worden. 

Und heute?
Doch das Pendel scheint nunmehr in die entgegengesetzte Richtung auszuschlagen. Fast jeglicher Kritik werden beizeiten antisemitische Motive unterstellt. Seltsam nur, dass die geforderte Solidarität mit Israel am Ende zu schweigender Zustimmung gegenüber dem politischen Kurs Netanjahus führt – er selbst wiederum hat, etwa mit den Antisemiten in der Trump-Regierung kein Problem, solange Groß-Israel näher rückt. Dabei ist es solche Politik, die nicht nur den unwürdigen Zustand der Besatzung perpetuiert, sondern damit auch Generationen traumatisierter Israelis hervorbringt. Als Juval Diskin in einem Dokumentarfilm gefragt wurde, was er von Leibovitz' Prophezeiung halte, sagte er: „Ich stimme dem Wort für Wort zu, es beschreibt meiner Meinung nach exakt die Zustände, die sich hier seit 1968 entwickelt haben.“ Diskin war von 2005 bis 2011 Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet.
Mit wem genau ist solidarisch, wer mit Israel solidarisch sein will? Wer die mutigen Bekenntnisse von Breaking The Silence würdigen möchte oder die Aktivitäten von B'Tselem, wie kann der solidarisch sein mit der Besatzungspolitik Netanjahus? Schließlich gelten die Bemühungen der einen einem real befriedeten Zustand, welcher auf lange Sicht das Leben auch der Israelis sicherer machen würde. Die Taten der anderen bilden in trauter Eintracht mit Hamas und Hisbollah einen Verblendungszusammenhang von sich immer wieder aufschaukelnder Gewalt. 

Empfohlene Literatur:
Eva Illouz. Israel. Suhrkamp. Erste Auflage. Berlin, 2015.
Gershom Gorenberg. Israel schafft sich ab. Campus Verlag. Frankfurt a. Main, 2012.
Gershom Gorenberg. Occupied Territories: The untold Story of Israel's Settlements. I.B. Tauris. New York, 2006.
Shlomo Sand. Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand. Ullstein. Erste Auflage. Berlin, 2011.
Idith Zertal/Akiva Eldar. Die Herren des Landes. Israel und die Siedlerbewegung seit 1967. Deutsche Verlags-Anstalt. Erste Auflage. München, 2007.


Hinweis: Für die Print-Ausgabe wurde dieser Text wegen Überlänge gekürzt.