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Geschichte im Unterricht

Der Vereinnahmte

Zum hundertsten Jahrestag des Attentats auf Walter Rathenau

lllustratıon: Martin Krämer | www kraemer-gestaltung.de

Vor hundert Jahren, am 24. Juni 1922, erschossen selbsternannte Herrenmenschen im Offiziersrang den damaligen Außenminister der Weimarer Republik. Die ideologische Munition dafür, auch die Logistik, hatte eine rechtsradikale Organisation namens 'Organisation Consul' geliefert. Walter Rathenau hatte aus Sicht des völkischen Milieus zwei Sünden begangen: Er war bereit, in Verhandlungen mit den Siegermächten des Ersten Weltkriegs eine Verminderung der deutschen Reparationsverpflichtungen zu erreichen, was formal die diplomatische Anerkennung des Versailler Vertrages unterstellte. Und, was noch schwerer wog, er war Jude. Der radikalen Rechten galt er als Verkörperung der verhassten, 'verjudeten' Republik.

Verzweifelte Assimilation

Darin liegt wiederum eine Art tragischer Ironie, denn der Ermordete, Sproß jüdischen Großbürgertums, geboren 1867, hatte sich in seinem politischen Wirken vor Ausrufung der Weimarer Republik stets als kaisertreuer Deutschnationaler geriert und war den Weg einer geradezu verzweifelten Assimilation gegangen, um Aufnahme in die wilhelminische Elite zu finden. Seinen Tod nahm eine kurzlebige Einheitsfront aus Mitte und Linksparteien zum Anlass, Gesetze gegen den rechten Terror zu verabschieden, und so avancierte er – nach dem dem Motto 'Die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde' - zur Symbolfigur für die Verteidigung der Republik. Siebzig Jahre später nennt ihn die Süddeutsche Zeitung, unbekümmert um den historischen Kontext, einen 'Linksliberalen'. Der Weser-Kurier zitiert einen Historiker, wonach man die Widersprüche seiner Person nicht ignorieren solle; nähere Erläuterungen dazu sucht man vergeblich.

Vom Wirtschaftskapitän zum Organisator der Heimatfront

Denn die vier Jahre, in denen er als Politiker der Deutschen Demokratischen Partei die Weimarer Koalition stützte, reichen kaum aus, um Jahrzehnte des Einsatzes für den wilhelminischen Imperialismus zu annullieren. Vor man ihn zum Märtyrer stilisierte, wurde er auch innerhalb der Linken misstrauisch beäugt, seine plötzliche Wandlung zum Republikaner hatte ihm ätzende Kommentare etwa von Kurt Tucholsky eingebracht, der dahinter eher opportunistische Motive vermutete. Rathenau wurde als Erbe in den AEG-Konzern hinein geboren, zu einer Zeit, als ein rasanter Prozess der Konzentration und Zentralisation des Kapitals die Aufteilung der Märkte unter Oligopole vorantrieb. Es waren die deutschen Anfänge dessen, was man später organisierten Kapitalismus nannte. Der Konkurrenz weniger Machtzentren, die durch Stimmanteile mit- und ineinander verflochten waren, entsprach der neue Managertypus des pragmatisch Verhandelnden, zwischen verschiedenen Interessengruppen Vermittelnden.  Mit seinen zahlreichen Posten in Aufsichtsräten und dem ihm zugeschriebenen Verhandlungsgeschick wurde Rathenau für die Öffentlichkeit zum Prototyp dieser neuen Ära, damit zugleich zur antisemitischen Projektionsfigur des Strippenziehers hinter verschlossenen Türen. Indessen drängte es ihn, seine Fähigkeiten einer politischen Karriere nutzbar zu machen. Das gelang ihm, indem er zum Organisator der staatlich koordinierten Kriegswirtschaft während des Ersten Weltkriegs aufstieg. Das Ziel eines deutschen Triumphes verfolgte er so fanatisch, dass er zu einem Zeitpunkt, als gemäßigte politische Kräfte längst Friedensverhandlungen forderten, nämlich 1918,  noch auf den 'Siegfrieden' pochte und im Falle der Besetzung des Reiches durch gegnerische Mächte eine levee en masse nach französischem Vorbild imaginierte, einen Abwehrkampf loyalistischer Volkskräfte.

Jüdischer Stolz und Selbsthass

Schon den zeitgenössischen Feuilletons galt Rathenau als Inbegriff der schillernden Persönlichkeit. War ihm eine unternehmerische Laufbahn gleichsam in die Wiege gelegt, so entwickelte er zugleich seine künstlerische Ader, verfasste literarische Texte und pflegte Freundschaften mit Kulturschaffenden. In biografischen Notizen inszenierte er sich selbst als Inkarnation des Widerspruchs von 'deutschem' Tat- und feingliedrigem Geistesmenschen; in Bezug auf letzteren changierte er zwischen Stolz und Selbstverachtung und betrachtete diesen 'geistigen' Anteil seiner Person als Element seines jüdischen Erbes, mit dem er lebenslang haderte. Dokumente aus dem Nachlass zeugen von der Absicht zur Konversion in den Protestantismus, die jedoch im letzten Moment wieder revidiert wurde. Typisch für seine Briefe ist das Beharren darauf, dass er Jude sei und zugleich treu deutsch bis in den Tod. In einer berüchtigten frühen Schrift mit dem Titel 'Höre Israel!' (1905) gibt er vor, das deutsche Judentum publizistisch zu verteidigen, gesteht jedoch dem Antisemitismus zu, dass es sich um einen 'Fremdkörper' im deutschen Volk handle und ermahnt es – nach seinem Vorbild gewissermaßen – endlich ganz ins Deutschsein einzutauchen. Der Text ist implizit gegen eine Kampagne des Zentralvereins jüdischer Staatsbürger gerichtet: Sie  zielte darauf, dass es trotz des Festhaltens an jüdischer Kultur möglich sei, loyal die Staatsbürgerschaft des Reiches auszuüben. Was also bei Rathenau wie Selbsthass wirkt, der sich antisemitischen Tropen annähert, wandelt sich zehn Jahre später ins Gegenteil. Gegen Ende des Krieges wird Rathenau die Reformbedürftigkeit des Reiches bewusst und er ist nunmehr ebenso voll des Lobes für die jüdische Kultur wie enttäuscht vom schwerfälligen Deutschtum, das ihm unfähig scheint, sich auf moderne Zeiten einzulassen.

Ein humanistischer Kolonialist

Dieselbe Uneindeutigkeit zeigt sich in Rathenaus Verhältnis zum Kolonialismus, den er zunächst aus imperialistischem Geist heraus emphatisch bejahte. Durch Unwissenheit lässt sich das nicht entschuldigen: Auf einer ausgedehnten Afrikareise nahm er 1907 den Zustand der deutschen Kolonien Ostafrika in Augenschein und fertigte ein Gutachten für die kaiserliche Regierung an. Während seine Tagebuchnotizen vor kitschigem Exotismus strotzen und eine ästhetische Begeisterung für die arabischen ''Prophetenköpfe“ an den Tag legen, die er voyeuristisch auf dem Basar begaffte, schätzte er zugleich Wirtschaftskraft und Kolonialverwaltung in ihrer Effizienz ein. Dabei sparte er nicht an Kritik am brutalen Umgang der Kolonialherren mit den Einheimischen. Den Deutschen sei es auf ihrer kolonialen 'irdischen Mission' viel eher bestimmt, durch positives Vorbild zu regieren als durch Gewalt, was dem britischen Kolonialismus besser gelinge und auch volkswirtschaftlichem Nutzen stärker diene. Wie Rathenaus Biografin, Shulamit Volkov, schreibt: „Er war hin- und hergerissen zwischen einer eindeutigen Verurteilung der Art, wie die 'Eingeborenen' behandelt wurden, und seinem Verständnis für die Kolonisten und ihre schwierige Aufgabe“. Im heutigen Namibia wurde er 1908, anlässlich einer weiteren Reise, mit der genozidalen Niederschlagung des Herero-Nama-Aufstandes durch Lothar von Trotha konfrontiert. Obwohl seine Kritik an der deutschen Kriegführung noch eindeutiger und entschlossener ausfällt, wiederholt sich das Muster aus Ostafrika. Ein reformierter Kolonialismus wird gefordert, jeglicher Gedanke an Rückzug verbietet sich: „Durch das deutsche Blut, das auf seinen Feldern vergossen worden ist, ist es ein Stück unserer Heimat geworden, und deutsches Land muss untangibel sein.“

 

lllustratıon: Martin Krämer | www kraemer-gestaltung.de

Wilhelminische Seelenqualen

Diese Art von fragwürdigem Humanismus erinnert an die Lichterketten im wiedervereinigten Deutschland der Neunziger, bei denen sich die Empörung über brennende Wohnheime unentwirrbar mit der Sorge um Deutschlands Ansehen in der Welt verband. Ein ähnlicher Verdacht kommt bei der Lektüre von Rathenaus Texten auf: Ging es ihm wirklich um die Gewalt an den Kolonisierten, die seine feine wilhelminische Seele nicht ertragen konnte, oder um entgangene volkswirtschaftliche Gewinne aus einer als Alternative gedachten partnerschaftlichen Ausbeutung des Landes? Klar entscheiden lässt sich das wohl nicht gegenüber einem, der bei Blut nicht an das von den Herero und Nama vergossene denkt, sondern an die deutschen Unterdrücker. Übrigens zögerte er später nicht,vom Letztverantwortlichen für die Massaker, dem Kaiser, einen Orden für seine Berichte anzunehmen.

Rathenaus nationalliberale Gesinnung wandelte sich während des Krieges, nachdem ihm die staatlich gelenkte Kriegswirtschaft zunehmend als Modell eines dritten Weges zwischen Kapitalismus und Kommunismus erschien. Von ihr konnte man sich freilich weniger die Befriedigung materieller Bedürfnisse erhoffen als vielmehr einen neugeschaffenen Zusammenhalt über Klassengegensätze hinweg – ein Schelm, wer hier Anklänge an nationalrevolutionäre Träume der Volksgemeinschaft wittert. Gleichzeitig setzte er sich im Zuge der Novemberrevolution, als bürgerliches Mitglied der Sozialisierungskommission, dafür ein, dass sozialdemokratische Enteignungspläne auf ein Mindestmaß zusammengestutzt wurden.

Mit seiner Wendigkeit changierte Rathenau zwischen Metaphysik und Wirtschaftswachstum, radikalem Nationalismus und Weltbürgertum, Menschenliebe und Kriegsverherrlichung. Das gab schon Stefan Zweig Rätsel auf: „Irgendetwas gläsern Durchsichtiges und darum Substanzloses war in seinem Denken...“. Robert Musil widmet ihm in seinem Roman 'Mann ohne Eigenschaften' die Figur des Dr. Paul Arnheim, dessen philosophische Anwandlungen verspottet werden und der sein Fähnchen in den Wind hängt.

Wandlung zum Republikaner?

Dennoch wäre es billig, Rathenaus politische Tätigkeit für die Deutsche Demokratischen Partei verächtlich machen zu wollen. Vergleiche zum bekanntesten  seiner Nachfolger im Amt des Außenministers drängen sich auf. Auch Gustav Stresemann galt bis zum Kriegsende als kaisertreuer Vertreter nationalliberalen Großbürgertums. Die von ihm später ausgehandelten Verträge mit Großbritannien und Frankreich trugen zur Stabilisierung der Weimarer Republik bei. Gleichwohl existiert ein Brief aus seiner Feder an den Kronprinzen Wilhelm, in dem die außenpolitischen Verhandlungen mit den Siegermächten als notwendiges Übel beim Wiederaufstieg zur Weltmacht verteidigt werden. Hätte Deutschland dann 'den Würger erst vom Halse', sei der Weg zur Rückeroberung nationaler Größe frei.

Ging es auch Rathenau nur um taktische Zugeständnisse im Dienst eines unangetasteten Revanchismus? Seine schriftliche Zeugnisse bleiben widersprüchlich. Es gehört zur Perfidie des Attentats, dass es ihm die Freiheit nahm, sich – gewissermaßen -  historisch zu rehabilitieren und am Ende zum glaubwürdigen Vertreter republikanischer Gesinnung zu werden, wie es anderen, Thomas Mann etwa, zugebilligt wird. Rathenau für seine Ermordung durch rechtes Pack zu adeln, wird ihm ebensowenig gerecht wie das Zerrbild des unverbesserlichen Großkapitalisten zu zeichnen. Ein Funktionär imperialer Machtentfaltung, der sich zum Verteidiger der Republik gewandelt hätte, bleibt, gerade im Zeichen des globalen Rechtsrucks, Anlass zur Hoffnung.