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Schwerpunkt

Der Trend zu Begegnungsschulen

Auslandsschularbeit und internationale Bildungssolidarität

Als im vergangenen Jahr die Taliban wieder die Macht in Afghanistan übernahmen, wollten zwei ehemalige Lehrerinnen der Deutschen Schule Kabul, die heute in Berlin und Hamburg unterrichten, ihren früheren KollegInnen helfen. Die deutschen Lehrkräfte hatten das Land schon Jahre vorher verlassen müssen. Nun übergaben die beiden Frauen dem Auswärtigen Amt eine Liste der gefährdeten Mitarbeiter, sammelten Geld für die Familien, organisierten Dokumente und Rechtsbeistand. Trotz schwierigster Bedingungen konnten sie in Eigeninitiative eine Reihe von Ortskräften nach Deutschland bringen. Andere jedoch hoffen bis heute noch auf Pässe, auf das Durchkommen nach Islamabad oder auf das Placet des Auswärtigen Amtes; manche müssen sich versteckt halten.

Enge Zusammenarbeit

Die GEW unterstützte das Engagement der beiden Kolleginnen mit Mitteln aus dem Heinrich-Rodenstein-Fonds. Dies sei als ein Beispiel dafür genannt, wie Auslandslehrkräfte persönliche Solidarität mit den Ortskräften ihrer Gastländer üben. Ähnliches kann man berichten über die dramatische Situation in der Ukraine, wo 46 Schulen und mehrere Hundert ukrainische mit deutschen Lehrkräften bis vor zwei Monaten eng zusammenarbeiteten. Die maßgeblich zuständige Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZfA) in Bonn teilt mit, dass sie mit fast allen ukrainischen KollegInnen, ob sie geflüchtet sind oder nicht, Kontakt hält und ihnen umfassende behördliche und persönliche Unterstützung anbietet.

Hilfen über die Schulen hinaus

Viele deutsche Auslandslehrkräfte sind in ihren Gastländern ganz unmittelbar mit Bildungssituationen konfrontiert, die sie aus ihrer Heimat nicht kennen: Sie unterrichten oft in einem Kollegium mit Einheimischen, die nur ein Bruchteil ihres Gehalts erhalten, sogar noch einem Zweitjob nachgehen müssen und mit schwierigen Arbeitsbedingungen konfrontiert sind. Wer offen für seine Mitmenschen ist, neugierig auf deren ganz andere Lebenswelten, wer zugewandt und empathisch ist, wird viele Gelegenheiten finden, vor Ort praktische Solidarität zu üben. Das gilt natürlich nicht nur fürs Ausland und nicht nur für den Bildungsbereich, aber da erscheint sie besonders naheliegend: KollegInnen besorgen schwer erschwingliche Arzneimittel, organisieren Au-pair-Aufenthalte für die Kinder einheimischer Kollegen, ermöglichen juristische Unterstützung oder akquirieren Geld für den Bau von Schultoiletten. Solches solidarische Handeln von KollegInnen wirkt oft weit über die jeweilige Schule hinaus.

Solidarität wirkt nachhaltig

Wir wissen, dass auch das persönliche, solidarische Handeln mehr ist als materielle „mildtätige“ Hilfe. Sie setzt im Auslandsschuldienst voraus, dass man mit den einheimischen KollegInnen vertrauensvoll zusammenarbeitet und dabei deren oft andere Art zu unterrichten und die unterschiedlichen kulturellen Prägungen und Lebensgewohnheiten respektiert. Und damit das gemeinsame Anliegen, jungen Menschen durch Bildung bessere Lebenschancen zu ermöglichen, voranbringt. Die Verständigung darüber, die kommunikative Reflektion und das pädagogische Miteinander sind die größten Herausforderungen für die Auslandsschularbeit. Aber erst eine solche solidarische Bildungsarbeit wirkt nachhaltig. Nur unter solchen Voraussetzungen kann es sogar gelingen, dass Lehrkräfte an deutschen Auslandsschulen im Extremfall politisch Verfolgte unter den einheimischen KollegInnen schützen, wie das in Zeiten der lateinamerikanischen Militärjuntas vorkam. Tatsächlich aber war dies die absolute Ausnahme. So wie die deutschen Auslandsschulen zunächst nur für die Kinder deutscher Auswanderer gegründet, vom kolonialistischen Erbe geprägt [Anm.: Tsity Dangarembga, Aufbrechen. Roman. Berlin 2019]  und in der NS-Zeit überwiegend willfährig waren [Anm.: Jens Weibel, Die deutschen Auslandsschulen in der Zeit des Nationalsozialismus. Dissertation Frankfurt/Oder 2011] , so angepasst waren sie bis in die 80er Jahre in autoritären oder diktatorischen Ländern [Anm.: Deutsche Schule Santiago de Chile, Projekt „Die Deutsche Schule zur Zeit der Militärdiktatur. Erinnern für die Zukunft, Berlin 2020]  - solidarisch allenfalls mit den (Bildungs-)Eliten der Länder, deren Kindern man zu privilegierten Lebenschancen verhalf.

Immer noch getrennte Lehrerzimmer

Und tatsächlich ist es auch heute oft objektiv schwierig, als deutsche Lehrkraft an einer Schule im Ausland solidarisch zu wirken. Oft ist die Zeit des Aufenthalts viel zu kurz dafür (in der Regel drei Jahre, maximal sechs) und die Eingewöhnung im neuen Land, die zusätzlichen Belastungen im gänzlich anderen Schulsystem, die veränderten persönlichen/familiären Bedingungen, das Erlernen der Sprache etc. – all das erfordert viel Kraft. Hinzu kommt, dass die einheimischen KollegInnen durchaus reserviert sein können gegenüber den immer nur für wenige Jahre auftauchenden deutschen Gastlehrkräften. Und manchmal gibt es in den Auslandsschulen noch getrennte Lehrerzimmer. Schließlich werden die deutschen KollegInnen auf ihren Auslandsaufenthalt auch eher dürftig vorbereitet, was die länder- und kulturspezifischen Voraussetzungen einer solidarischen Bildungsarbeit betrifft. In dem Vertrag, den die Auslandslehrkräfte unterschreiben, müssen sie sich ausdrücklich zu (politischer) Mäßigung und „diplomatischem“ Verhalten im Gastland bekennen. Was bedeutet das wohl für die deutschen KollegInnen an den Auslandsschulen in der Türkei, wenn sie sich mit demokratisch gesinnten, aber als unbotmäßig geltenden einheimischen Lehrkräften solidarisieren wollten?

Neue Akzente

Insbesondere mit dem damaligen Außenminister Steinmeier hat die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, in die das Auslandsschulwesen eingebettet ist, deutlich neue Akzente gesetzt. Schon vorher hatten sich viele der „elitären“ deutschen Auslandsschulen konzeptionell in Begegnungsschulen verwandelt, in denen es nicht nur deutsche, sondern auch einheimische Lehrpläne und Abschlüsse gibt und das gleichberechtigte Miteinander beider Kulturen zum Prinzip wird. Nach der „Wende“ gab es neben den traditionellen Auslandsschulen (heute sind es 150) einen neuen Ansatz in der Auslandsschularbeit: An nationalen Schulen im Ausland wurden Deutsch-Schwerpunkte eingerichtet, die das Deutsche Sprachdiplom (DSD) vermitteln, dass auf der Stufe B 2 das Studium an einer deutschen Universität ermöglicht. Es stellt eine geradezu „anti-elitäre“ Einrichtung dar, die einer Schülerin in Belarus oder einem Schüler in Vietnam – ohne Schulgeld – große Bildungschancen eröffnen kann. Inzwischen gibt es weltweit über 1100 solcher DSD-Schulen. An diesen vom Auswärtigen Amt geförderten Schulen lernen zurzeit über 500.000 SchülerInnen in 70 Ländern (an den traditionellen deutschen Auslandsschulen sind es 85.000).

Eine Art weltweite Lerngemeinschaft

Um daraus eine globale Bildungspartnerschaft zu machen, wurde 2008 die sog. PASCH-Initiative gegründet: „Schulen: Partner der Zukunft“. Die inzwischen fast 2000 Schulen im Ausland mit deutscher Förderung bilden zusammen mit mehreren Hundert Schulen in Deutschland ein Netzwerk, in dem auf vielfältige Weise kooperiert werden kann. Eine Art weltweite Lerngemeinschaft, deren Ziel mehr als bloße Mehrsprachigkeit ist: Bildung wird als Schlüssel zur Lösung der gemeinsamen Zukunftsprobleme verstanden.[ Anm.: Transnationale Bildungsräume. Herausforderungen für die deutsche Auslandsschularbeit. Dokumentation einer Fachtagung der GEW (AGAL) und der Uni Oldenburg. Frankfurt 2014.] Die vielfältigen (digitalen) Projekte, interaktiven Angebote, Fortbildungsmaßnahmen, Unterrichtsmaterialien, Stipendien und Begegnungen sollen zunächst natürlich bei jungen Menschen in der ganzen Welt vor allem Interesse oder gar Begeisterung für die deutsche Sprache und die moderne deutsche Gesellschaft wecken, aber dahinter steckt auch die Idee einer internationalen Bildungsgerechtigkeit: von der globalen Bildungspartnerschaft zur internationalen Bildungssolidarität! Viele Schulen in Deutschland unterstützen ihre PASCH-Partnerschulen in der Ukraine und haben bereits Geflüchtete aufgenommen.

Einheimische Gewerkschaften und das Tabu

Das wichtigste Kapital, um nachhaltige Grundlagen dafür zu schaffen, dass aus jungen Menschen solidarische „global citzens“ werden, sind die Lehrkräfte. [Anm.: Die 24. AGAL-Tagung widmet sich vom 9.  bis 12. November 2022 dem Thema „Nachhaltiges Lernen im PASCH-Netz?“]  Man könnte sich vorstellen, dass GEWerkschaftlich organisierte Lehrkräfte, das sind ungefähr ein Drittel der deutschen Auslandslehrkräfte, einen besonderen Beitrag zur internationalen Bildungssolidarität leisten könnten. Das ist aber schon deswegen schwierig, weil sie sich normalerweise nicht in den einheimischen Lehrergewerkschaften organisieren können. Und die GEW und ihre AG Auslandslehrkräfte (AGAL) sehen sich kaum in der Lage, ein spezielles Konzept für eine gewerkschaftlich orientierte bildungssolidarische Arbeit im Ausland zu entwerfen.

Russland will keine Auslandslehrkräfte mehr

Die praktische Frage, ob die optimistischen Ansprüche der Steinmeier-Initiative tatsächlich umgesetzt werden und langfristige Wirkung haben, hängt also ebenso von den allgemeinen Rahmenbedingungen wie nicht zuletzt von der Überzeugungskraft der deutschen Lehrkräfte im Ausland ab. Der Krieg stellt zurzeit alle Bemühungen um partnerschaftliche Bildungsprojekte in der Ukraine in Frage. Schon Anfang dieses Jahres hatten die Regierungen in Russland und Belarus neben der Arbeit des Goethe-Instituts auch die der Auslandslehrkräfte für unerwünscht erklärt. Demokratieerziehung, Mitbestimmung, weltbürgerliche Bildung, internationale Vernetzung passen Lukaschenko und Putin eher nicht