Digitalisierung
Der Mythos vom E-Learning
Gedanken aus der Quarantäne
„Die folgenden Seiten handeln von einem Sinn für das Absurde, wie er in unserem Jahrhundert weit verbreitet ist (…)“ [Hier in deutscher Übersetzung der Rowohlt-Taschenbuchausgabe von 1988]
Zwei Wochen der Schulschließung liegen hinter uns, die Ferien vor uns. Was vor drei Wochen schwer denkbar war, ist heute Realität. Was heute geschrieben wird, könnte in drei Wochen deplatziert wirken. Die Gegenwart scheint absurd, die Zukunft ungewiss.
Die Bremer Schullandschaft reagiert darauf… mit E-Learning! Mit einem gewissen vorauslaufenden Heilsversprechen ausgestattet soll E-Learning jetzt Probleme lösen, die es zuvor nicht gab. Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Nordrhein-Westfalen bezieht sich auf die Coronakrise im Allgemeinen und die Situation in Italien im Besonderen und sagt: „Aber ich wünschte mir auch in diesem Fall eine abgeklärte, besonnene Politik. Wir müssen die Nerven behalten.“ [https://www.spiegel.de/politik/deutschland/nrw-gesundheitsminister-laumann-ueber-die-coronakrise-wir-muessen-die-nerven-behalten-a-7d159a5b-3be9-49b8-a2a9-5d06c273291b Stand: 27.03.2020] Dies wünsche ich mir für den Bildungsbereich auch, scheint aber besonders uns Lehrkräften selbst schwer zu fallen.
Wir versuchen uns im E-Learning, dazu noch in einer besonderen Form. Nicht ergänzend zum laufenden Unterrichtsbetrieb in Gemeinschaft, sondern ausschließlich in Distanz im privaten Umfeld. Lernen ist – und das ist unter Psychologen, Neurologen, Pädagogen und verwandten Berufsständen anerkannte Annahme – in seinem Erfolg im wesentlichen Ergebnis einer Beziehungssituation zwischen handelnden Personen. Klaus Zierer fast Überlegungen John Hatties zusammen und sagt: „Lernen war, ist und bleibt anstrengend und erfordert Einsatz. Und ebenso ist Lehren eine komplexe und anspruchsvolle Tätigkeit, deren Erfolg nicht programmierbar ist.“[Klaus Zierer, Kernbotschaften aus John Hatties Visible Learning, 2015, Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Sankt Augustin/Berlin]
E-Learning als Ersatz des Unterrichts wird dem Anspruch der Beziehungsarbeit und der Komplexität nicht hinreichend gerecht und kann nur eine Notlösung sein.
Werkzeuge der Programmierung der Lernenden und Infantilisierung der Lehrenden
Programmierbare Ergebnisse sind aber die am einfachsten auf ihren Erfüllungsgrad zu überprüfende und somit für vielfältige „Trial and Error“-Verfahren des digitalen Werkzeugkastens am geeignetsten Inhalte. Dem Erlernen einer einfachen Vokabel, Formel, Datenliste und ähnlichem genügen sie, einem umfassenden Bildungsanspruch nicht. Auf der Medienonline-Seite des LIS wird die Lehrkraft für das Zusammenbasteln eines H5P-Elements gelobt: „Jetzt haben wir bereits ein zweites Element in H5P erstellt, welches wir später in komplexeren Modul immer wieder verwenden können: beispielsweise als lustige Tonausgabe bei einer falschen Antwort.“ [https://www.lis.bremen.de/sixcms/media.php/13/Handbuch_H5P_in_MedienOnline.pdf Stand: 28.02.2020]
So lustig ist das gar nicht. Später heißt es: „Je besser ihre Fotos sind, umso schöner wird ihre Präsentation.“ Wer hätte das gedacht. Komplexere Ideen, wie die Umsetzung von Zeitzeugeninterviews mit NS-Zeitzeugen in „Virtuelle Realität“, um sie folgenden Generationen verfügbar zu machen, sind ehrenwert, lösen aber das zentrale Problem von E-Learning in Distanz nicht auf. „Ein schlechter Unterricht wird mithilfe digitaler Medien nicht besser. Nur ein guter Unterricht kann davon profitieren.“[ https://www.medienfachtag-bremen.de/wp-content/uploads/2020/01/Keynote_Zierer.pdf Stand: 27.03.2020]
Wenn aber gar kein Unterricht mehr stattfindet, entsteht ein Problem, für dessen Kompensation nicht alles erlaubt sein kann.
Gut gedacht – schlecht gemacht!
In guter Absicht richten Lehrkräfte virtuelle Klassenräume ein, schreiben Nachrichten, laden Material hoch, verlinken diese und jene Seite, stellen Aufgaben, deren Erfüllungsgrad automatisiert erfasst werden kann und als Krönung werden Videokonferenzen mit Schülerinnen und Schülern veranstaltet. Zu oft wird meines Erachtens die Schwierigkeit in der einen oder anderen Tücke gesehen und technisch gelöst, zu selten die Frage nach Zulässigkeit gestellt. Wieso sollten Fragen zur Chancengerechtigkeit, zur Inklusion u.a.m., die im normalen Schulalltag schwer zu beantworten sind, im Distanzlernen von selbst beantwortet sein? Hierzu haben wir uns im Rahmen der Schulbegleitforschung [https://www.lis.bremen.de/sixcms/media.php/13/SBF-Projekt%20162-E-Learning%20-%20Heterogenit%E4t.pdf Stand: 28.03.2020] bereits 2007 Gedanken gemacht und sind – verkürzt – zu dem Ergebnis gekommen: E-Learning bietet Chancen bei Heterogenität, erfordert aber ganz besondere Qualifikationen und Ressourcen. Viele haben sie, aber wer sie bisher nicht hatte, wird sie in der Krise nicht blitzschnell erwerben können. Wie kann die Privatsphäre nicht nur bedacht, sondern garantiert werden? Durch die Eröffnung einer Videokonferenz bekommen wir - und Mitschülerinnen und Mitschüler - Einblicke in das Privatleben der Lernenden und ihrer Familien, die uns definitiv nichts angehen und die auch nicht steuerbar sind. Das fängt mit einer im Bildhintergrund sichtbaren Raumausstattung an, geht mit lautstarkem Streit der Eltern aus dem Nachbarzimmer weiter und ist endlos weiter zu denken. Wer garantiert zum Beispiel, dass nicht die kleine Schwester in der Livevideokonferenz gerade nackt durchs Bild läuft, weil Geschwister sich ein Zimmer teilen, die Mutter ohne Kopftuch, weil sie mit dem Event gerade nicht gerechnet hat? Technikaffine Lehrkräfte wissen: Das lässt sich alles organisieren! Richtig, aber lässt es sich garantieren? Und ist dann auch gleich sinnvoll? Prof. Dr. Klaus Zierer hat auf einem Medienfachtag des LIS am 18.11.2019 [https://www.medienfachtag-bremen.de/wp-content/uploads/2020/01/Keynote_Zierer.pdf Stand: 27.03.2020] zum Thema „Digitalisierung zwischen Mythen und Wahrheiten: Wie Digitalisierung in der Schule gelingen kann“ hierzu interessante Impulse gegeben.
Über das Ziel hinaus geschossen
Viele Lehrkräfte schießen jetzt übers Ziel hinaus, maßen sich handwerkliche Kompetenzen in Filmemacherei an, die sie nicht haben, setzen Technik und Kompetenzen Zuhause voraus, ignorieren Datenschutzbedenken, preisen Produkte kommerzieller Anbieter an und lassen in der ehrenvollen Absicht, Gutes tun zu wollen, die nötige Ruhe und Sorgfalt schon mal außen vor. In Zeiten einer Pandemie könnte eine Erkrankung einer Lehrkraft, unter den Lernenden oder im familiären Umfeld durchaus vorkommen. Berücksichtigen wir das mit ausreichend Taktgefühl und Diskretion in Distanz? E-Learning hat zudem die ungute Eigendynamik, den Zeitbedarf von Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern expansiv zu dehnen. Im Moment mag das in Ordnung sein, aber was davon ist im Alltag zu leisten?
Dass hier zurzeit nicht alles klappen kann… geschenkt. Es ist dafür im Moment auch wenig Kritik an uns Lehrkräften zu hören. Vielleicht hat die Welt gerade andere Sorgen?
Lehrkräfte sortieren, strukturieren, ordnen ein und bringen sich in ihrer Haltung zu den Themen ein, entwickeln Haltungen mit Schülerinnen und Schülern, im Austausch. Das ist im Schulbetrieb unser Auftrag. Das ist normalerweise wichtig und das bleibt es jetzt. Unter den aktuellen Vorzeichen, denke ich, haben viele aktuelle Maßnahmen des Distanzunterrichtens eine psychologisch und sozial ernsthaft wichtige Funktion. Wie Fensterputzen oder Toilettenpapier kaufen. Man möchte irgendetwas tun, das sinnvoll erscheint. Man möchte eine gewisse Ordnung und Form halten, man möchte sich Sicherheit verschaffen. Das ist wichtig. Wir möchten in Kontakt bleiben. Das ist auch sehr wichtig. Die Inhalte können in dieser Phase zu Recht hintanstehen. Ruhe und Verlässlichkeit sind jetzt die legitimen Botschaften.
Was wirklich zählt
Viele erhoffen sich von der gegenwärtigen Situation, die so gar nichts Positives verspricht, aber wenigstens einen nachhaltigen Schub für die Digitalisierung. Wenn der Papst in seinem Gebet am Freitagabend, den 27. März 2020, auf dem Petersplatz sagt, jetzt sei „die Zeit zu entscheiden, was wirklich zählt und was vergänglich ist, die Zeit, das Notwendige von dem zu unterscheiden, was nicht notwendig ist“ [https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2020-03/wortlaut-papstpredigt-gebet-corona-pandemie.html Stand: 27.03.2020], dann denke ich: Er hat Recht und E-Learning ist gerade nicht unser Hauptproblem. Angesichts absurder Zustände in Flüchtlingslagern in Idlib und Moria, absurder Attentate in Halle und Hanau und dem, was in den nächsten Wochen noch auf uns zukommt, benötigt unsere Gesellschaft sicher einen nachhaltigen Schub… an Menschlichkeit!
Verurteilen wir E-Learning aber auch nicht vorschnell. Halten wir es wieder mit Karl-Josef Laumann: „Ich habe einen Zettel auf meinem Schreibtisch (…), auf dem ich mir alles notiere. Und nach der Krise werde ich diesen Zettel abarbeiten.“ [https://www.spiegel.de/politik/deutschland/nrw-gesundheitsminister-laumann-ueber-die-coronakrise-wir-muessen-die-nerven-behalten-a-7d159a5b-3be9-49b8-a2a9-5d06c273291b Stand: 27.03.2020]
Artikel ungekürzt.
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