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Schwerpunkt

„Der internationale Kampf um Bildung ist auch einer gegen das Patriarchat“

Gespräch mit Naïla Chikhi über Feminismus und Säkularismus

Naila Chikhi - Feministische Autorin und Bildungsreferentin

Geboren 1980 in Algier, erlebte sie in den Neunziger Jahren, wie islamistische Gruppen sich durch Propaganda und Gewalt als neue politische Macht in Algerien etablieren konnten. Der darauffolgende Bürgerkrieg zwang Naïla Chikhi zur Flucht, die über Tunesien und Frankreich nach Deutschland führte. Sie publiziert zum Thema Feminismus und Säkularismus, führt als Expertin und  Referentin pädagogische Workshops durch und hat am Berliner Projekt zum Thema 'konfrontativer Religionsbekundung in Schulen’ mitgearbeitet. Auch davon berichtet sie im Gespräch mit Werner Pfau.

Wie steht es um die internationale Solidarität in der Bildung? Wo siehst Du Defizite und Handlungsbedarf?

Das Recht auf Bildung ist universal und gilt für alle Kinder. Dieses Recht ist ein wesentliches Instrument, um die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Entwicklung einer Gesellschaft und somit eines Landes zu erreichen. Zwar wurde der Zugang zur Bildung in den letzten Jahren immer mehr Mädchen und Frauen ermöglicht, allerdings ist die Rate der Analphabeten unter Frauen nach wie vor höher als bei Männern im globalen Süden. Und obwohl die Einschulungsraten von Grundschulkindern in fast allen Regionen der Welt gestiegen sind, ist die Kluft zwischen den Geschlechtern in der Mittelstufe weiterhin groß. Oft liegt es an den herrschenden patriarchalischen Traditionen, wie Frühverheiratung ab der Pubertät.

Und wenn frauenfeindliche Normen durch religiöse Fundamentalisten mit Gewalt durchgesetzt werden, kann sogar der Zugang zur Grundbildung den Mädchen ganz verwehrt werden, wie es uns die Taliban erneut vor Augen führen. Zum Schulbeginn in Afghanistan vergangenen März wurden die Schülerinnen auf brutale Weise nach Hause zurückgeschickt. Als Vorwand nannten die frauenhassenden Taliban die Schuluniform, die ihrer Ansicht nach unangemessen sei, da sie das Gesicht und ein bisschen Haar nicht verhüllt. Der Vorwand der Verschleierung wird stets von den islamischen Fundamentalisten eingebracht, wie es der Fall war z.B. in Algerien, im Iran oder auch heute in Europa. Denn die Islamisten wollen Mädchen und Frauen aus dem öffentlichen Raum verbannen und verhängen deshalb einen Verschleierungszwang – was nichts anderes als die Verneinung des weiblichen Körpers bedeutet.
Internationale Solidarität bedeutet, die afghanischen Frauen in ihrem Kampf um Bildung zu unterstützen.

In Berlin hast Du beim Projekt zu ‚konfrontativer Religionsbekundung‘ mitgearbeitet. Welche Ziele hast Du damit verbunden?

Konflikte in der Schule gehören zum Alltag. In den letzten Jahren waren sie zunehmend religiös konnotiert. Seit Jahren gibt es Hilferufe von Schulen, allerdings finden solche Konflikte oft nur medial eine gute Resonanz, jedoch leider nicht genügend politisch. Der Verein Demokratie und Vielfalt e.V. (DeVi e.V.) wurde vom Bezirksamt Berlin-Neukölln beauftragt und vom Bundesfamilienministerium im Rahmen des Programms „Demokratie Leben“ finanziert, eine Bestandsaufnahme und ein Konzept für eine Anlauf- und Dokumentationsstelle zu konfrontativen Religionsbekundungen in Schulen (KRB) zu erarbeiten. Darunter versteht der Verein „religiöse Praxen sowie religiös konnotiertes (Alltags)Verhalten, die in der (Schul-) Öffentlichkeit ausagiert werden, auf Aufmerksamkeit zielen, provozieren, erniedrigen und/oder Dominanz herstellen.“

Ziel der Dokumentation und Anlaufstelle sollte sein, herauszufinden, wie stark religiöses Mobbing an Schulen verbreitet ist. Die gemeldeten Fälle sollten wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden.

Was konntet ihr durch eure Umfragen herausfinden?

In einem sehr knappen Zeitraum – zweieinhalb Monaten – und unter verschiedenen Einschränkungen führte Devi e.V. eine explorative Untersuchung mithilfe qualitativer Interviews durch. Es konnten PädagogInnen aus insgesamt zehn Neuköllner Schulen einbezogen werden. Schulleitungen, SchulsozialarbeiterInnen, eine Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe wurden anhand eines offenen Interviewleitfadens befragt, d.h. dass die Interviews so geführt wurden, dass die Befragten Raum hatten, das zu erläutern, was ihnen wichtig ist.

Die Palette der dokumentierten Konflikte ist groß und sie ähnelt derjenigen, die 2004 im Bericht von Jean-Pierre Obin, dem französischen Inspecteur générale de l'Éducation nationale, aufgelistet sind: u.a. Nötigung zum Einhalten des Fastens, Ablehnung der Koedukation, Abwertung von Angehörigen anderer Religionen oder Minderheiten, in diesem Zusammenhang auch die Verweigerung des Besuchs von Gedenkstätten. Die Ergebnisse sind verheerend v.a. für Mädchen: Konservative Schüler kontrollieren Mädchen, ob sie sich religiös konform benehmen und setzen sie unter massiven Druck oder belästigen sie gar, weil sie sich nicht religiös konform kleiden.

Mit dem Ausgang des Projektes bist Du unzufrieden, warum?

Trotz der sehr bedenklichen Ergebnisse der Bestandsaufnahme wurde das Projekt nicht weiter finanziert. Berliner PolitikerInnen von Bündnis90/Die Grünen, der LINKEN und der SPD sowie einigen religiösen Netzwerken versuchen seitdem mit allen Mittel das Projekt zu ersticken. Sie diffamierten – und tun es immer noch – unsere Arbeit und behaupten, wir würden muslimische Kinder stigmatisieren. Stigmatisierend finde ich allerdings, wenn man immer noch nicht muslimisches von „islamistischem“ Verhalten unterscheiden kann. Mir ist durch die Protestwelle gegen das Projekt bewusster geworden, wie einige unserer PolitikerInnen und zivilgesellschaftlichen AkteurInnen muslimische Kinder benachteiligen und diskriminieren – auch wenn sie in ihren Reden das Gegenteil behaupten –, indem sie sie nicht vor den Krallen religiöser Extremisten schützen wollen. Weshalb haben sie den Mut, Kinder vor christlich geprägten Sekten oder vor Rechtsextremisten zu schützen, aber nicht vor islamistischen, frauenhassenden, antisemitischen und homophoben Milieus?

Selbst die GegnerInnen des Projekts erkennen heute zwar öffentlich an, dass religiöses Mobbing tatsächlich existiert. Damit hat sich der Diskurs erfreulicherweise geändert. Das ist ein erster Erfolg der Bestandsaufnahme. Allerdings wollen sie ihre Deutungshoheit über das Thema weiterhin festigen.

Heutzutage wird oft gesagt, patriarchale Strukturen und Religion hätten gar nichts miteinander zu tun oder ließen sich trennen. Was denkst du darüber?

Das Patriarchat beruht auf der Idee der Dominanz des Mannes. Situationsabhängig verbündet es sich mit anderen Strukturen, auch neuzeitlichen Entwicklungen, um seine Vorherrschaft zu festigen. Die strukturelle Diskriminierung der Frau ist zum Beispiel eine Folge der Allianz des Patriachats mit der Politik; die Ausbeutung des Frauenkörpers wie etwa durch Prostitution oder Mietmutterschaft eine Konsequenz der Allianz des Patriarchats mit dem Kapitalismus; und es gibt auch das Bündnis zwischen Patriarchat und Religion, das meines Erachtens das älteste, das stärkste, aber auch fatalste für Frauen ist. Folglich ist es richtig zu sagen, dass das Patriarchat nicht nur religiös bedingt ist, allerdings ist es eine Binsenweisheit, dass sowohl die monotheistischen Religionen als auch z.B. der Buddhismus die vermeintliche Überlegenheit des Mannes über die Frau großschreiben. Die Beseitigung patriarchaler Strukturen ist weiterhin stark mit der Bekämpfung rückwärtsgewandter religiöser Normen verbunden. Wer das heute immer noch leugnet, kennt die realen Lebensbedingungen vieler Mädchen und Frauen, etwa im muslimischen Umfeld, nicht oder blendet sie bewusst aus.

Wie könnten wir migrantische Jugendliche stärken, die nicht nur dem Rassismus der Mehrheitsgesellschaft, sondern auch sozialem oder religiösem Druck in ihren Familien oder Communities ausgesetzt sind?

Viele Probleme, denen migrantische Jugendlichen begegnen, wurden in den vergangenen Jahren nur symptomatisch behandelt, sodass man heute mehrgleisig agieren muss, um sie faktisch zu stärken. In der Tat gibt es Rassismus, der von der Mehrheitsgesellschaft ausgeht und der dezidiert bekämpft werden muss. Allerdings, je intensiver ich mich mit der Integrationsfrage befasse, desto zahlreicher werden mir weitere Varianten des Rassismus bewusst, wie etwa der Rassismus von Minderheiten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft oder auch gegenüber anderen Minderheiten. Beispielweise werden nicht selten Freundschaften zwischen TürkInnen und KurdInnen, MarokkanerInnen und Afrodeutschen, sunnitischen und schiitischen MuslimInnen oder zwischen MuslimInnen und AtheistInnen verboten. Dies sind auch Formen des Rassismus, die thematisiert und mit Entschlossenheit angegangen werden müssen.

Ähnlich ist es mit dem Thema Diskriminierung. Beim Thema Frauendiskriminierung wird zum Beispiel oft über die staatliche Diskriminierung von Frauen gesprochen, während die strukturelle Diskriminierung von Mädchen und Frauen innerhalb religiöser oder ethnischer Gemeinschaften ausgeblendet wird.

Was kann pädagogisch geleistet werden?

Eine klare pädagogische Haltung erwarte ich von den LehrerInnen und SozialarbeiterInnen. Migrantische Jugendliche können eine andere Erstsozialisation erfahren haben als Kinder ohne Migrationshintergrund. Sie können religiös und kulturell begründete Werte und Normen verinnerlicht haben, die konträr zu unseren säkularen und freiheitlich-demokratischen Prinzipien stehen. Das wird zum Beispiel beim Thema religiöses und sexuelles Mobbing ganz deutlich. Diese Formen des Mobbings sollten nicht nur als rein pubertäre Provokation oder als Schwierigkeit bei der Identitätssuche interpretiert werden. Wie die Bestandaufnahme von Devi e.V. aber auch französische und belgische Untersuchungen zeigen, ist dieses Verhalten nicht selten eine Nachahmung der Eltern oder des nahen Umfelds – und dazu Ergebnis einer übertoleranten Haltung der Aufnahmegesellschaft gegenüber religiös-patriarchalischen Bräuchen. Hier darf das schulische Personal nicht aus Angst oder falscher Scham davor zurückzuschrecken, die bedrohten Jugendlichen zu schützen; und es darf sich dabei auch nicht vom erlernten Opfer-Narrativ der Täter, dass man ein/e RassistIn sei, den pädagogischen Blick vernebeln lassen. Wichtig ist es, die Strukturen, in denen die migrantischen Jugendlichen leben, zu kennen und zu erkennen, ob diese ihre Freiheiten und Entfaltungschancen einschränken oder ob Gewalt (psychisch und körperlich) angewendet wird. Dafür müssen die PädagogInnen bereit sein, genau hinzuschauen und zuzuhören. Denn oft geraten diejenigen, die sich von diesen Strukturen befreien wollen, in sehr bedrohliche Lagen. Offene Gespräche auf Augenhöhe ohne paternalistische oder kulturrelativistische Haltung sind nötig.

Die Würde des Menschen, die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Religions- und die Gewissensfreiheit sowie die Meinungsfreiheit sind unverhandelbar. Hierfür sehe ich den Philosophie-Ethik-Unterricht als ein wichtiger Raum. Es sollte zum Pflichtfach ab der Grundschule werden.

  • Chikhi / Schönenbach, Ich will frei sein, nicht mutig  bestellbar in jeder guten Buchhandlung: ISBN 978-3-86569-328-0