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Afganistan

„Demonstrantinnen wurden geschlagen und mit Schüssen eingeschüchtert!“

Interview mit Laila Noor, Mitbegründerin der Independent Afghan Women Association (iawa), über ihre Projekte und die Lage in Afghanistan

Nach dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan musste Laila Noor mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen die Flucht nach Deutschland antreten. Seitdem kämpft sie aus dem Exil für Bildung und Fortschritt in ihrer Heimat. Als Mitbegründerin der IAWA organisiert sie Schulprojekte in Afghanistan und setzt sich insbesondere dafür ein, dass auch Frauen und Mädchen Zugang zu Bildung haben. Schulen an fünf Standorten wurden gebaut, mit Spenden, die Frau Noor unermüdlich sammelt. Seitdem die Taliban wieder an der Macht sind, steht ihr Telefon nicht mehr still.

Frau Noor, in welcher Situation sind ihre Schulprojekte im Moment?

Eine ganze Zeit lang waren die Schulen geschlossen. Jetzt hat man erlaubt, dass Mädchen bis zur dritten, vierten Klasse zur Schule gehen dürfen. Jungs dürfen ja sowieso. Allerdings haben viele Eltern Angst und lassen ihre Kinder zuhause.

Neuerdings geben sich die Taliban offener und verkünden, dass auch Frauen Zugang zu Bildung haben dürften. Ist das glaubwürdig?

Nachdem, was wir vor zwanzig Jahren mit den Taliban erlebt haben, fällt es mir sehr schwer, das zu glauben. Das Ministerium für Frauen wurde bereits umbenannt. Sind auf Plakaten Frauen zu sehen, werden sie mit schwarz übermalt. Demonstrantinnen wurden geschlagen und mit Schüssen in die Luft eingeschüchtert. Liest man die 'Kabinettsliste' der Taliban, wird einem schlecht: Das sind die Leute, die schon vor zwanzig Jahren an der Macht waren.

Wie ist denn die allgemeine humanitäre Situation?

Katastrophal. Hunger breitet sich aus. Das Wirtschaftsleben ist zusammengebrochen, die Banken stehen still. In einigen Gegenden wird noch gekämpft, die Männer fallen und ihre armen Frauen flüchten mit den Kindern nach Kabul. Das werfe ich auch dem Westen vor: Nicht nur wurde Afghanistan im Stich gelassen, man tut jetzt nichts, um die humanitäre Krise auch nur etwas einzudämmen, etwa mit Blauhelmeinsätzen oder ähnlichem. Das ist schwer auszuhalten.

Glauben Sie, die Taliban würden Blauhelme ins Land lassen?

Man müsste es wenigstens vorschlagen. Wenn die neue Regierung Interesse daran hat, sieht man es. Sie sind ja an Geld und anderem interessiert. Humanitäre Unterstützung könnte angeboten werden, aber nur unter der Bedingung, dass die UN die Aufsicht hat und der Einsatz von Blauhelmen akzeptiert wird.

Sie haben sich ja enttäuscht vom Westen gezeigt. Können Sie einmal etwas Bilanz ziehen, welche Fehler wurden gemacht?

Bereits nach der sowjetischen Invasion wurden entscheidende Fehler gemacht. Es wurde zu radikal gegen die Religion vorgegangen, Moscheen geschlossen. Andererseits wurden Menschen verfolgt, die im Westen studiert hatten und das Land auch modernisieren wollten. Mein Vater beispielsweise hatte in Deutschland studiert. Er war Bürgermeister von Kabul und politisch engagiert. Mit achtzig Jahren haben sie ihn inhaftiert und gefoltert, am Ende getötet. Und das ist nur ein Schicksal von vielen.

Afghanistan ist ein islamisches Land, aber der Islam dort war sehr moderat. Christliche, jüdische und buddhistische Gemeinden konnten dort in Frieden leben. Von 1933 bis 1977 war eine recht friedliche Zeit, an den Unis konnten beispielsweise Frauen studieren. Sie waren auch in Schlüsselpositionen, etwa als Ministerinnen. Wir waren auf dem Weg einer 'kleinen' Emanzipation, verglichen mit dem, was danach kam. Auch demokratische Tendenzen gab es, bis zur sowjetischen Invasion.

Und dann die Taliban – wer waren sie?

Sie kommen aus den extremen islamischen Schulen an der Grenze zu Pakistan; unterstützt wurden sie von den Saudis, Pakistan und bekanntlich auch von den USA, zur Schwächung der Sowjetunion im Kalten Krieg. Viele Afghanen waren vor 25 Jahren durchaus zuversichtlich – wenn die Taliban von den Amerikanern unterstützt werden, vielleicht kommt es zu demokratischen Verhältnissen. Und die ersten sechs Monate haben sich die Taliban relativ ruhig verhalten, dann ging es los: Mädchenschulen wurden geschlossen, Frauen durften nicht mehr arbeiten, wurden ausgepeitscht, einige im offenen Stadion erschossen. Das war grauenvoll – aber die Welt hat sich dafür nicht interessiert. Die barbarische Bombardierung von Buddhastatuen hat mehr Aufsehen erregt als das Elend der Menschen.

Und die Aktionen des Westens?

Man hat zwar versucht, einiges zu modernisieren, aber es wurden zugleich große Fehler gemacht. Demokratie lässt sich nicht von oben verordnen. Sie muss langsam von unten wachsen. Regierungschef Karsai und seine Familie waren korrupt, er blieb als Marionette der Amerikaner an der Macht. Der Drohnenkrieg der USA traf Unbeteiligte, die Bilder von bombardierten Hochzeiten gingen um die Welt. So verloren die USA in der Bevölkerung an Zustimmung. Im Green Valley wurde ein kleines Los Angeles gebaut, mit Kentucky Fried Chicken und Pizza Hut. Obst wurde importiert, anstatt es auf den lokalen Märkten zu kaufen. Während die Bundeswehr eine relativ gute zweijährige Ausbildung für Polizeikräfte organisiert hat, haben die Amerikaner Leuten, die sie auf der Straße rekrutierten, nach zwei Monaten ein Gewehr in die Hand gedrückt. Leute, die oft nicht alphabetisiert und total unterbezahlt waren. Und dann wird gefragt, warum die afghanische Armee sich nicht gewehrt hat...

Gab es die oft diskutierten Ansätze einer Zivilgesellschaft?

Von unten hat es durchaus Bewegung gegeben, ein Aufbau war spürbar. Jedes Jahr, wenn ich zu Besuch kam, sah ich mehr Frauen auf der Straße, Schulen wurden geöffnet. Darum war ich so schockiert, als die beteiligten Nationen das Land von einer Minute zur anderen im Stich gelassen haben. Trump hatte die Monate zuvor in Doha mit den Taliban verhandelt – ohne dass ein Repräsentant der afghanischen Regierung dabei war! Afghanistan wurde von Trump gezwungen, 5000 inhaftierte Taliban aus dem Gefängnis freizulassen. Wo war der Westen? In dieser Zeit gab es weiterhin Attentate – bei einem Angriff auf eine Mädchenschule wurden 80 Mädchen getötet. Die Welt hat es gesehen. Wo war ihre Stimme? Und dann hauen die intervenierenden Staaten einfach ab, ohne wenigstens einen menschlich anständigen Weg zu finden, um die Betroffenen zu schützen. Jetzt tun alle so, als hätten sie das nicht kommen sehen. Ich bin auch sehr enttäuscht von Bundesaußenminister Maaß.

Was halten Sie von der Behauptung, die verfolgten Menschen könnten nach Pakistan flüchten?

Die Taliban werden von einflussreichen pakistanischen Gruppen gefördert. Ausgerechnet dorthin will man ihre Opfer schicken? Kürzlich wurde bekannt, dass vier flüchtende Frauen an der Grenze erschossen worden sind – von pakistanischen Polizisten. Davon hört man kaum etwas in der westlichen Presse. Und das tut auch unendlich weh. Von überall hört man: 'Wir wollen keine afghanischen Flüchtlinge'. Als ob wir das Letzte wären. Den Afghanen wird die Würde genommen.

Sie setzen ihre Arbeit trotz der verzweifelten Lage fort. Was kann die deutsche Gesellschaft, was kann die GEW tun, um Sie zu unterstützen?

Die Independent Afghan Women Association, die ich mit gegründet habe, kämpft weiter. Unser Verein, in dem auch wunderbare deutsche Frauen wie unsere Schatzmeisterin mitarbeiten, hat seinen Sitz in Bremen. Wir arbeiten alle ehrenamtlich und legen Wert auf Transparenz. Wir haben in Afghanistan kein Office, keine Fahrer, jeder Cent geht in die Projekte. Vor 25 Jahren haben wir die erste Grundschule mit 500 Mädchen und Jungs gebaut. Heute haben wir auch Gymnasien, über zehn Schulgebäude mit 18.000 Schülerinnen und Schülern. Umso größer ist unsere Sorge, was in Zukunft passiert, insbesondere mit den Mädchen. 

iawa (Independent Afghan Women Association e.V.)
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