Interview
„Das Schweigen brechen - Eine Stimme gegen den Genozid!“
Ein Gespräch mit Zhian Hakari über die Gewalt des IS, Flucht und Erinnerung
Vor zehn Jahren begann der Angriff des „Islamischen Staates“ im Irak auf die jesidischen Gebiete. Viele Überlebende sind traumatisiert. Es fällt ihnen nicht leicht, öffentlich über das Erlittene zu sprechen. Zhian Hakari hat sich entschlossen, diesen Schritt trotzdem zu tun. Sie will ihren Beitrag dazu leisten, dass der Genozid nicht in Vergessenheit gerät. Der jungen Frau gelang mit ihrer Familie die Flucht vor dem IS. Mittlerweile lebt sie in Deutschland, hat einen Sohn und führt ihr Master-Studium Englische Literatur zu Ende. Mit dem bildungsmagaz!n spricht sie zum ersten Mal öffentlich über die Vergangenheit. Das Gespräch wurde auf Englisch geführt
Erzähl uns von deiner Kindheit im Irak.
Ich wuchs in Sreshka, einem Dorf innerhalb einer rein jesidischen Gegend im Norden Iraks auf - etwa eine Stunde von Mossul entfernt - und hatte daher kaum Kontakt zu Außenstehenden. Natürlich kannte ich viele Geschichten über die Unterdrückung meiner Volksgruppe, aber selbst erfahren habe ich diese erst, als ich an der Universität von Mossul studieren wollte, einer Stadt, in der dschihadistische Gruppen präsent waren.
Wie kam es dazu?
Ich komme aus einer Familie, in der Bildung geschätzt wird. Und meiner Mutter war es wichtig, dass auch die Mädchen sich bilden können. So beschloss ich, wie andere Jugendliche aus meiner Gegend, zu studieren. An der Universität wurden wir relativ höflich behandelt. Ich wollte Lehrerin werden - das will ich noch heute. Viele Leute wussten, dass ich Nicht-Muslima war, denn ich weigerte mich, den Hijab zu tragen. Fast alle muslimischen Frauen trugen ihn damals, teils aus religiösen Gründen, teils aufgrund des Drucks islamistischer Gruppen, die in der Stadt präsent waren und Frauen bedrohten, wenn sie sich nicht verschleierten. Jesidische und christliche Frauen fielen also sofort auf. Sogar meine Mutter hat mir damals geraten, den Schleier zu tragen. Wer einer gefährdeten Minderheit angehört, lernt früh, nicht aufzufallen. Das entspricht jedoch nicht meinem Charakter.
Schon damals, etwa 2012, also vor der Gründung des IS, hetzten jihadistische Agitatoren dagegen, dass wir „Ungläubigen“ studierten. Drohungen wurden ausgestoßen. Einer von den Fahrern, die jesidische Studierende zur Uni fuhren, wurde erschossen. Einmal explodierte eine Bombe, und ich dachte, ich würde nie wieder nach Hause kommen. So lernte ich die Angst am eigenen Leibe kennen.
Wann hast du zum ersten Mal vom IS erfahren?
Im Laufe des Jahres 2014 hörten wir von dieser neuen Gruppierung. Unsere Sorge hielt sich in Grenzen, weil wir annahmen, sie wollte vorwiegend die irakische Regierung stürzen und hätte es nicht speziell auf uns abgesehen. Besorgt waren wir, aber in Maßen. Ich war zu diesem Zeitpunkt einundzwanzig Jahre alt. Drei Monate später hörten wir überraschend vom Überfall des IS auf Sinjar, das Zentrum des jesidischen Volkes. Zehntausende Männer wurden ermordet, Familien zerstört, Frauen als Sex-Sklavinnen verkauft und viele weitere Grausamkeiten begangen, die man sich nicht vorstellen kann. Damit war uns klar, dass wir fliehen mussten.
Wie ist euch das gelungen?
Uns standen keine richtigen Fahrzeuge zur Verfügung. Doch wir fanden einen Traktor, den eigentlich niemand fahren konnte. Einem Onkel blieb nichts anderes übrig, als ihn zu fahren. Vier, fünf Familien bildeten so eine Art von langsam sich fortbewegendem Konvoi. Ich weinte die ganze Zeit, den Leuten in meiner Umgebung gelang es nicht, mich zu beruhigen. Wir fuhren stundenlang in Richtung der Autonomen Region Kurdistan, in der Hoffnung, dort einen sicheren Ort zu finden. Vergebens, denn ISIS konnte überall angreifen, Unberechenbarkeit gehörte zu ihrer Strategie. Es gab keinen wirklich sicheren Ort, aber zumindest erreichten wir Saxo in Kurdistan. Kaum waren wir einen Tag da, gab es Gerüchte über einen Angriff. So war unser nächstes Ziel die türkische Grenze, bei Ibrahim Khalil. Wir hofften in unserer Verzweiflung, die Türkei würde ihre Schlagbäume für uns öffnen und warteten einige Tage im Grenzgebiet. Das war wieder vergebens. Schließlich endeten wir in Dohuk, womit wir wenigstens näher an unserem Heimatdorf waren. Gelegentlich konnten wir dorthin fahren, um lebenswichtige Dinge zu holen. Dabei waren wir immer in Todesangst. Denn nur eine halbe Stunde Autofahrt entfernt, in Tel Kaif, war ein Stützpunkt von ISIS. Nach einem Jahr hielten wir es in Dohuk nicht mehr aus - unsere ganze Familie lebte in einem kleinen gemieteten Zimmer. Wir gingen zurück in unser Dorf, im Wissen, jederzeit, innerhalb kürzester Zeit, überfallen werden zu können. Das war der schwierigste Teil unserer ganzen Fluchterfahrung. Wir wussten seit den Massakern in Sinjar, wozu sie fähig waren. Die Alpträume aus dieser Zeit sitzen uns immer noch in den Knochen.
Wie würdest du diese Furcht beschreiben?
Wir hörten ständig, wie Bomben detonierten. Aber wir wurden ebenso von Nachrichten bombardiert. Gerüchte verbreiteten sich um uns herum. ISIS stieß die ganze Zeit Drohungen aus, selbst solche, die sie nicht alle wahr machen wollten oder konnten. Dieser Terror ist Teil ihrer Propaganda. Manchmal weiß ich gar nicht, wie wir das psychisch überlebt haben. Wie gesagt, sie konnten praktisch innerhalb einer Minute in unserem Dorf auftauchen. Ich habe eine behinderte Schwester. Das Schlimmste war für mich die Vorstellung, was mit ihr geschehen würde, etwa wenn wir weglaufen mussten. Und genau das passierte vielen älteren oder behinderten Menschen, die bei der Flucht nicht mobil waren, vor allem nicht auf die Berge klettern konnten. Einige wurden von ihren Familien auf Schultern getragen. Manche schafften es trotzdem nicht: Die heiße Augustsonne brannte tagelang auf uns herunter.
Dachtet ihr an die Gefangennahme durch ISIS?
Wir stellten uns viele Fragen, etwa, wie wir reagierten, falls sie uns zum Übertritt in den Islam auffordern würden. Mir wurde ein Vorfall aus Sinjar berichtet. Jesidische Männer wurden von ihren Frauen getrennt, die versklavt werden sollten. Nachdem man die Männer in einer Schule eingesperrt hatte, forderte man sie auf, Muslime zu werden. Sie haben sich zum Schein darauf eingelassen. Nachher wurden sie trotzdem erschossen. Uns war klar, dass von ISIS keine „Gnade“ zu erwarten war. Etliche Jesidinnen haben in der Gefangenschaft Suizid begangen, um sich der auf sie zukommenden Tortur zu entziehen.
Wie kann man nach solchen Erfahrungen weiterleben?
Die Erinnerungen sind immer noch in mir, meinem Körper. Das alles ist nicht vergangen, es ist noch gegenwärtig. Noch herrscht keine wirkliche Normalität. Die Traumata sind da und übertragen sich von einer Generation auf die nächste.
Du lebst mittlerweile in Deutschland. Fühlst du dich hier sicher?
Ja, ich fühle mich im Allgemeinen sicher. Ich bin dankbar, mein Studium der Literaturwissenschaft hier abschließen zu können. Besorgniserregend empfinde ich es, dass laut einigen Berichten Mitglieder von ISIS nach Deutschland einreisen konnten. Eine Jesidin ist auf der Straße einem ihrer Peiniger begegnet. Und andererseits gibt es rechtsextreme Kräfte, die uns hier nicht haben wollen.
Was empfindest du, wenn du hörst, dass mittlerweile wieder jesidische Menschen in den Irak abgeschoben werden?
Man kann Menschen nicht an den Ort zurück schicken, wo sie traumatisiert wurden. Im Irak gibt es zudem kaum Therapieplätze, um den Menschen zu helfen.
Du hast mittlerweile einen Sohn zur Welt gebracht.
Ja, das ist eine große Freude für mich. Mein Mann kommt aus Shengal (Sinjar) und war dort Zeuge des Genozids. Nun leben wir beide in Deutschland und haben ein Kind. Sie wollten uns vernichten, doch es ist ihnen nicht gelungen! Ich hatte natürlich großes Glück, dass die meisten meiner Verwandten fliehen konnten. Umso mehr fühle ich die Verpflichtung, zu sprechen, auch für die, die nicht mehr sprechen können. Ich kenne eine Frau, die neun Söhne verloren hat. Ihre Töchter sind noch vermisst und sie sucht nach ihnen. Niemand wird es schaffen, uns jesidische Frauen zum Schweigen zu bringen!