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Das Gespenst des Neoliberalismus Teil 1

Eine Geisterjagd in mehreren Teilen

Foto: Wilfried Meyer

Dies ist der erste Teil einer Serie mit dem Schwerpunkt Neoliberalismus in der Bildung. Zum Einstieg wird der Begriff selbst rekapituliert. In den folgenden Teilen soll es dann, unter Beteiligung wechselnder Autorinnen und Autoren, um das Schulwesen, die Universitäten, Privatisierung, das Fach Wirtschaft und ähnliche Phänomene im Kontext neoliberaler Politik gehen.

Karriere eines Begriffs

Der Begriff „neoliberal“ ist zur Phrase geworden – und dies zu konstatieren, ebenfalls. Kein Artikel, der nicht mit dieser  Feststellung begänne. Trotz mittlerweile inflationären Gebrauchs ist eine grobe inhaltliche Tendenz nicht zu übersehen: Wer neoliberal sagt, meint die verbreitete politische Auffassung, wonach erstens der Markt eine großartige Regelungsinstanz für allerlei gesellschaftliche Belange – allen voran: die Güterversorgung, Allokation von Ressourcen u.ä. – sei. Wo gleichwohl Arbeitslosigkeit, Armut oder andere unerfreuliche Lebenslagen auftreten, kann dies zweitens nur an einer Missachtung von Marktgesetzen durch Staat oder Gesellschaft liegen. Als Universalrezept wird drittens der Rückzug des Staates aus sozialstaatlichen oder anderweitig den Markt beeinflussenden Positionen postuliert. Bislang staatlich betriebene Institutionen sollten privatisiert, staatliche Vorgaben abgebaut, also dereguliert werden. Selbst dort, wo der Staat noch als Betreiber auftritt, wird die Einführung von Konkurrenz und finanzieller (Schein-)Selbständigkeit gefordert. Gewerkschaften sind in neoliberaler Optik ein Abgrund von wirtschaftsfeindlicher Regulierung und müssen daher in ihrem Einfluss gebrochen oder, eleganter, mithilfe unsichtbarer parteipolitischer Bande(n) auf sozialfriedlichen Kurs gebracht werden. Wo die Durchführung entsprechender Maßnahmen, euphemistisch „Reformen“ genannt, zu einer Steigerung unerfreulicher Lebenslagen wie Armut oder Arbeitslosigkeit, führt, ist das viertens nur Index für noch nicht weit genug getriebenen Umbau. Denn dass die genannten Phänomene aus einer Marktlogik erwachsen, ist ja durch die erste Prämisse ausgeschlossen – also: Gehe zurück auf Los!

Abwehrstrategien

Gerade durch letztere Wendung wappnet sich neoliberale Ideologie hermetisch gegen den Abgleich mit Erfahrung. Zwar sind bürokratische Apparate nicht zwingend die bessere Alternative zu Formen privater Gewinnerwirtschaftung. Aber mit Privatisierung treten oftmals die gleichen oder zumindest andere Übel auf. Man denke an die Privatisierung der Bahn in England, worüber etwa der Film The Navigators von Ken Loach Auskunft gibt – von der deutschen Variante ganz zu schweigen –
an die Privatisierung des Wassers in Ländern des Südens, die ebenfalls gut dokumentiert ist. Was die Deregulierung des Arbeitsmarktes betrifft, so können viele in den Gewerkschaften ein Liedchen davon singen: Zehntausende Prekarisierter stehen zwar nicht wirklich auf eigenen Beinen, leben mit Mangel und Existenzangst, fallen aber auch dem Staat nicht mehr „zur Last“ - dann war das wohl der Zweck der Übung, also jener Gesetze, die nach einem mittlerweile vorbestraften VW-Arbeitsdirektor benannt sind. Staatliche Budgets müssen nicht mehr dafür in Anspruch genommen werden, wobei die Frage sich stellt, aus welchen Quellen diese sich eigentlich gefüllt hatten. Wie dem auch sei, in der zirkulären Logik des Neoliberalismus zeigt dies alles nur: Es herrscht immer noch zu wenig Marktwirtschaft.

Lob des Marktes…

Die Geschichte der Wirtschaftstheorie nennt Ökonomen wie den Österreicher Friedrich von Hayek (1899 – 1992) als Ideengeber des Neoliberalismus, für die USA Milton Friedman (1912 – 2006) mit seinen „Chicago Boys“.. Die Debatte um Wirkung und Funktion des Marktes ist indes so alt wie das Fach selbst, das mit dem Aufkommen frühkapitalistischer Zustände im 18. Jahrhundert seinen historischen Aufschwung erfuhr. Kein geringerer als Adam Smith prägte ja die Formulierung von der „unsichtbaren Hand des Marktes“ und versuchte zu zeigen, wie der Wohlstand im sich industrialisierenden England wuchs, ohne dass irgendeines der beteiligten ökonomischen Subjekte sich dies zum Ziel gesetzt hatte. Im Gegenteil, jedem ging es nur um den eigenen Vorteil, ein allgemeines Anwachsen war gleichwohl die Folge, was Smith der bewusstlosen Koordinationsleistung des dadurch zum höchsten ökonomischen Subjekt erhobenen Marktes zuschrieb.

…und Kritik desselben

Marx, der Smith in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts intensiv studiert, tut dies übrigens keineswegs als bloße Ideologie ab: Der Markt – bzw. der kapitalistische Akkumulations und Zirkulationsprozess – wirkt tatsächlich wie ein eigenes Subjekt; ob der gesellschaftliche Reichtum gewachsen ist und wie er sich verteilt, kommt erst im Nachhinein heraus, wenn die vielen in privater Konkurrenz produzierten Waren durch den Schmelztiegel der Zirkulation gegangen sind, Bilanz gezogen, Kredit (nicht) bezahlt wurde u.s.w. Faktisch nur aus lauter zielgerichteten Handlungen menschlicher Subjekte bestehend, führt das Marktgeschehen „ex post“, nachdem alle Händel einer Zeiteinheit abgeschlossen sind, zu Ergebnissen, Verlusten und Gewinnen, die kein menschlicher Verstand so vorhersehen konnte. Handelt es sich beim Markt also um eine Verselbständigung gegenüber seinen menschlichen Akteuren, so zeitigt dies auch für Marx zunächst historisch nützliche Effekte: Etwa die Erweiterung der technologischen Möglichkeiten, das Anwachsen der berühmten Produktivkräfte, die gesteigerte Arbeitsteilung und -produktivität. Sie zeigt aber im weiteren Verlauf ebenso ihre Kehrseite: Wieso etwa für ein und dieselbe Tätigkeit verschiedene Lohnhöhen existierten – was mit dem angeblich herrschenden Tauschprinzip nicht zusammenstimmt -  und weshalb Unternehmen die Löhne nach Möglichkeit drücken wollten – das roch doch mehr nach einem handfesten Interessengegensatz als nach rationaler Preisfestsetzung durch ein Wesen namens „Markt“. Dessen “Rationalität“ orientierte sich erkennbar am Ziel der Gewinnsteigerung, und diesem hatte sich alles andere unterzuordnen. Ihre Fragwürdigkeit enthüllt sich im Zyklus von Konjunktur und Krise, welche für Marx aus dem Zweck des Marktes, dem schrankenlosen Wachstumszwang, resultiert, der regelmäßig an die Grenzen seiner eigenen Wachstumspotenzen stößt. Unverkäufliche Waren, stillgelegte Produktion und brachliegende Arbeitskraft bezeugen die Irrationalität eines Systems, das den Naturzwang überwindet, nur um dann aus eigenen Schranken heraus wirtschaftliche Not zu produzieren – Not, die durch planendes Eingreifen des menschlichen Verstandes vermeidbar wäre. Bis zu diesem Punkt zumindest folgten auch sozialdemokratische Parteien Marx' Diagnose und gaben ein paar Jahrzehnte lang die Losung aus, der Markt sei, wenn schon nicht abzuschaffen, dann zumindest demokratischer Kontrolle und Steuerung zu unterwerfen.

Der Neoliberalismus

Auf die akademische Bühne tritt der modernen Neoliberalismus in den Dreißiger Jahren, wo sich in London Friedrich von Hajek als wissenschaftlicher Gegenspieler von Maynard Keynes in Stellung bringt. Keynes Name steht – ob zu recht oder unrecht – für die theoretische Legitimation jener Politik des deficit spending, mit der Roosevelt auf die Wirtschaftskrise von 1929 reagiert. Hajek entwickelt in diesem Kontext die zentrale Denkfigur neoliberaler Wirtschaftstheorie: Die Krise sei Folge staatlicher Eingriffe und daher nicht durch solche zu beheben. Das Verhältnis wird also umgedreht: Nicht wegen krisenhafter Entwicklungen müsse der Staat einschreiten, sondern umgekehrt. Alles Übel komme von staatlicher Einmischung, woraus das ewige Ziel der Wirtschaftspolitik erwächst, die Freiheit des Marktes, vor allem gegenüber politischen und gesellschaftlichen Ansprüchen, zu sichern. Dabei darf der „schlanke Staat“ dann durchaus robust zu Werke gehen. In diesem Sinne war Hajek in den Fünfzigern auch ein expliziter Gegner des Begriffs „Soziale Marktwirtschaft“, schien ihm darin doch zu viel Verpflichtendes zu liegen. Die praktische Stunde der Neoliberalen schlägt in den Siebzigern: Zuerst dürfen Friedmans „Jungs“ aus Chicago sich auf der blutigen Spielwiese der chilenischen Diktatur austoben – ohne lästige Störungen durch Arbeiterparteien oder Gewerkschaften. Anfang der Achtziger lässt sich Margret Thatcher durch Hajek beraten. Auch Reagan werden Sympathien für seine Ideen nachgesagt. Doch gerade das amerikanische Beispiel hält eine grundsätzliche Lektion zum Thema bereit: Waren die neoliberalen Direktiven politisch opportun, wenn es galt, Gewerkschaften und sozialstaatliche Strukturen zu zerschlagen, wurden Sie bei veränderter Interessenlage auch wieder in den Wind geschlagen. So fand unter Reagan eine gigantische Schuldenaufnahme statt, finanziert aus internationalem anlagesuchenden Kapital, die direkt in den militärisch-industriellen Komplex floss, um die UdSSR mit SDI u.a. tot zu rüsten. Fraglich, ob dies der reinen Lehre ökonomischer staatlicher Askese entsprach.

Neoliberalismus als Berufungsinstanz

Am Ende war die Berufung auf den Neoliberalismus doch eher ideologische Begleitmusik als wirklicher Grund der Politik. Sie passte zum Niedergang des Akkumulationsmodells, das in der Zeit des Aufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Systemkonkurrenz mit dem Osten, dominierte. Es brachte zeitweise Vollbeschäftigung und Massenkonsum, doch schließlich treten wieder die unausweichlichen Schranken des Wachstums (siehe oben!) auf den Plan. Das Absterben traditioneller Industrien und der aufhaltsame Aufstieg des Finanzsektors in den Siebzigern sind Symptome, wie auch die Entkopplung von Wachstum und Vollbeschäftigung unter den Auspizien eines globalisierten Weltmarkts. Neoliberales Gedankengut eignet sich nunmehr als wissenschaftliche Legitimation für eine aggressive Standortpolitik, die den ökonomischen Großmachtstatus Großbritanniens und der USA retten will, indem sie sich sozialer (Un-)Kosten entledigt. Später lässt sich auch Rot-Grün in Deutschland beeindrucken, inspiriert durch den aus Erbgut von Thatcher geklonten Tony Blair. Und es hebt an ein Zeitalter der „Reformen“. Davon mehr in den nächsten Teilen.