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Schwerpunkt

Das Bermuda Dreieck der Kids und der Scheinriese Politik

Was Armut und Bildungsungerechtigkeit miteinander zu tun haben

Bei den vergangenen gefühlten zehn Bürgerschaftswahlkämpfen wurden wir Wähler*innen immer wieder von den Plakaten her angesprochen, dass nun dieses Mal aber wirklich die Priorität der Gestaltung im Bereich der Bildung liegen würde. Ist die Durchlässigkeit im Sinne eines gesellschaftlichen Aufstiegs auf der Basis guter Bildungsabschlüsse auch für Kinder aus den wenig begüterten Haushalten der Republik besser geworden, ist das großartige Versprechen der Chancengerechtigkeit schon eingelöst oder wenigstens durch Abbau von Bildungsbarrieren ein wenig erfüllt, führt das Inklusionsversprechen wirklich zu einer besseren Förderung aller Kinder im Bildungssystem, erfüllt also die Politik die Versprechen, die es gegenüber den Wähler*innen alle vier Jahre wiederholt?

Wir wissen, dass Kinder leichter lernen, wenn sie zu Hause entsprechend gefördert werden, also die Umfeldbedingungen so sind, dass sie Vorbilder und Räume zum Lernen haben. Wir wissen auch, dass gesunde Kinder besser lernen können als kranke. Materieller Status, Bildung und Gesundheit sind die wesentlichen Bausteine, die die Grundlage für einen erfolgreichen Bildungsweg bilden. Wenn nur einer in diesem Bermuda Dreieck nicht funktioniert, dann steigt die Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns in der Schule rapide.

Bis zu 80 Prozent armutsgefährdet

Die von den Kolleg*innen jeden Tag spürbaren unterschiedlichen Bildungsverhalten beginnen aber nicht erst mit dem Schuleintritt, sondern der Aufbau der Barrieren beginnt bereits vor der Geburt.

Die Kindersterblichkeit ist in Gröpelingen doppelt so hoch wie im übrigen Stadtgebiet.

Schon bleiben also etliche an der ersten Hürde unwiderruflich hängen. Die Bremer Armutskonferenz - ein Zusammenschluss von Arbeitnehmerkammer, Sozial- und Interessenverbänden einschließlich der GEW sowie kirchlicher Einrichtungen - führte deswegen bereits 2013 die erste Konferenz zum Thema Kinderarmut durch und stellte im Ergebnis fest, dass sich in Bremen fast 30 und in Bremerhaven fast 40 Prozent in einer armutsgefährdeten Lebenslage befinden. „Teilweise betrifft das auf Ortsteilebene mehr als jedes zweite Kind, auf Quartiersebene bis zu 80 Prozent der Kinder.“

Aktuell stellt der Kinderschutzbund fest, dass 42 Prozent der Bremer Kinder - also wesentlich mehr als noch 2013 - von Armut bedroht sind, was zur Folge hat, dass bezogen auf Suchtmittelkonsum, Mediensucht, Übergewicht, Sprachentwicklungsstörungen und schlechte Zähne überdurchschnittliche Folgen feststellbar sind.

Die Entwicklung ist also dramatisch und mittlerweile auch amtlich festgestellt. „Kinder aus problembelasteten Ortsteilen hatten wesentlich häufiger auffällige Befunde. Ein Drittel dieser Kinder wies Vorerkrankungen auf, fast 16 Prozent waren übergewichtig oder adipös. Des Weiteren waren Kinder aus besonders problembelasteten Ortsteilen häufiger verhaltensauffällig und häufiger entwicklungsverzögert, 40 Prozent beherrschten die deutsche Sprache kaum oder nur unzureichend.“ Dieser Befund ist das Ergebnis der Schuleingangsuntersuchungen 2016. Der Bericht ist auch nur öffentlich zugänglich, weil die Armutskonferenz immer wieder diese Gesundheitsdaten eingefordert hat. Und trotz der Aufforderung, diese Berichte regelmäßig zu liefern, geschieht das nicht. Es könnte ja ein politischer Handlungsbedarf sichtbar werden.

Die unzulänglichen Tests

Am Schulbeginn sind die einen prima konditioniert und die anderen sind nicht etwa dümmer, sie haben nur die A-Karte. Die Grundschullehrkräfte nehmen sich dieser Kinder mit voller Hingabe an, arbeiten mit ihnen intensiv, erreichen individuelle Lernfortschritte und dann kommt in Klasse 4 die Sortierung. Die misst nicht etwa die Prozesse, also wo kommen die Kinder her und was ist in der Schule erreicht worden, sondern sie stellt wesentlich einen für alle geltenden Leistungsstand fest, der sich weitgehend an den Normen der bildungsbürgerlichen Mittelschicht orientiert. Mit den vielen begleitenden Tests wird auch nicht alles gemessen, was Bildung erreichen soll, denn sonst könnte es nicht sein, dass Sachsen mit seinem Spitzenplatz den höchsten Anteil rechtsradikaler jugendlicher Wähler*innen hat. Für die engagierte Bremer Kollegin kommt wieder die Meldung des letzten Platzes, soll wohl heißen, dass die Kollegien nicht ordentlich arbeiten würden.

Wenn eine Bremer Lehrkraft im Urlaub ist, wird sie sich manchmal schwertun, gegenüber Dritten ihren Beruf zu verraten, denn dann ist sie wegen der Bekanntheit der Roten Laterne sofort in Erklärungsnot.

Das Symbol Qualitätsinstitut

Und nach jeder PISA-Bekanntgabe folgen die gleichen Erklärungsmuster. Ja, Bremen hat besonders viele Kinder, die unter prekären Bedingungen leben, aber man werde jetzt weiter an der Verbesserung der Qualität der Schulen arbeiten. Nun ist damit nicht wesentlich eine bessere Ausstattung der Schulen oder der Kitas gemeint oder womöglich konzeptionelle Klarheit für den Umgang mit den schwierigen Bedingungen. Nein, Politik braucht öffentlich wahrnehmbare Symbole. Also wird ein Qualitätsinstitut gegründet, weil das ja auch in Hamburg angeblich so prima funktioniert. Dass Hamburg pro Grundschüler beispielsweise über 40 Prozent mehr Mittel als Bremen aufwendet, wird natürlich verschwiegen. Und dass Hamburg bei der Versorgung mit vorschulischen Einrichtungen ebenfalls deutlich vor Bremen rangiert, wird auch nicht benannt. Mit mehr als 20 Stellen wird das Institut also künftig die Schulen belehren, was sie besser zu leisten haben, obwohl sie es wegen der schulischen Bedingungen gar nicht können. So stellt sich die öffentlich präsentierte Lösung als Scheinriese heraus, je näher man an die tatsächliche Umsetzung kommt, desto deutlicher wird ihre Unwirksamkeit. Nebenbei bemerkt hat die Gründung des Instituts zur Folge, dass im Bildungsressort jetzt außerhalb der politisch gesetzten Spitze sechs Stellen in der oberhalb des höheren Dienstes liegenden B-Besoldung bestehen. In der Zeit der Bremer Ampel in den neunziger Jahren gab es eine – die des Landesschulrates und die hatte einen KW-Vermerk. So organisieren die Bürokraten ihre eigenen Bedingungen, es scheint für den Rest ein wenig die Kraft zu fehlen.

Druck, Krankheit, Resignation

In den Schulen baut sich der Druck auf die Kollegien immer weiter auf, weil die aus der Gesellschaft kommenden zunehmenden Probleme nicht angemessen verarbeitet werden. Der Mangel führt zu Entsolidarisierungen, jede/r ist sich selbst der/die Nächste. Selbst der Vorsitzende des Schulleitungsverbandes fordert die Aufgabe des Versuchs, über zentrale Steuerungsmechanismen wenigsten eine halbwegs gleichmäßige Verteilung des Mangels zu erreichen.  Die Folgen sind klar: Der moralische Druck, der sich aus dem Umgang mit den real vorhandenen Kindern ergibt, führt zu einer Intensivierung der Arbeitsleistung.

Die Lehrkräfte überfordern sich in der Hoffnung, dass es irgendwann einmal besser werden wird. Stattdessen wächst der Druck, die Krankheitsrate steigt, die Resignation nimmt wegen der im Alltag bezogen auf die Notwendigkeiten wahrgenommenen Hilflosigkeit zu.

Menschen, die auf Dauer solchen Drucksituationen ausgesetzt sind, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit früher oder später krank. Sie kündigen entweder richtig oder nur innerlich. Die bei ihnen so erzeugten Schäden bleiben und sind nicht abbaubar, indem ein Jahr später die Arbeitsbelastung reduziert wird, sagen uns die Arbeitswissenschaftler. So ist aktuell eine Spirale feststellbar, die unweigerlich zu mehr Belastungen und somit auch zu weiteren Ausfällen in den Kollegien führen wird. Und eine Besserung ist nicht in Sicht. Das Bildungswesen wird implodieren, wenn nicht Grundlegendes geändert wird.

„Nutzt die Konferenzen“

Die Kinder sollen in den Schulen auf die Gestaltung ihrer Zukunft vorbereitet werden. Sie sind darauf angewiesen, dass sie hier und heute das Rüstzeug dafür erhalten. In wenigen Jahren müssen sie mit dem erlernten Instrumentarium ihr Leben gestalten. Aktuell werden Kindergenerationen um ihre Zukunftschancen betrogen und die kommenden noch mehr, weil keine Prozesse sichtbar sind, wie die real vorhandene Bildungskatastrophe beseitigt werden kann.

Was kann die pädagogische Fachkraft in Kita und Schule also tun, um in diesem Chaos zu bestehen, das auf schulischer Ebene nicht grundlegend beseitigt werden kann? Zunächst bietet sich an, den kollegialen Zusammenhalt in den Schulen zu stärken. Bildet Zusammenhänge, in denen ihr euch austauscht und gemeinsam eure Arbeit reflektiert.

Die Ergebnisse der Bildungsstudien sind nicht Ergebnis des individuellen Versagens, sondern sie spiegeln die offensichtliche Unfähigkeit von Politik und Verwaltung wider, die notwendigen Prozesse angemessen zu organisieren und zu finanzieren.

Nutzt eure Konferenzen zur Regelung der Arbeit im Rahmen eurer Möglichkeiten und macht über diesen Weg deutlich, was unter diesen Bedingungen nicht mehr geht. Fordert ein, dass die Mittel, die für nichtbesetzte Stellen zur Verfügung stehen, den Schulen/Kitas zugewiesen werden, damit diese in Eigenverantwortung kreative oder bewegungsbasierte Projekte umsetzen. Nutzt einen gewerkschaftlichen Rahmen auf Schulebene, weil der euch schützt. Bildet schulische/vorschulische Netzwerke im Quartier, damit ihr nicht gegeneinander ausgespielt werdet. Habt keine Angst vor versuchten Repressionen der Behörde. Sie wird nicht riskieren, auch nur eine engagierte Fachkraft zu verlieren.

GEW muss offensiver werden

Darüber hinaus muss unsere Gewerkschaft deutlich offensiver werden. Das wird ihr aber nur gelingen, wenn sich mehr Kolleg*innen in die Arbeit einbringen. Also überlegt doch einmal, ob ihr trotz der realen Überbeanspruchung am Arbeitsplatz ein wenig Zeit für eure eigene Interessenvertretung organisieren könnt, wenn schon nicht für euch, so doch wenigsten im Interesse der Kinder.

Übergeordnet bringt der Zusammenschluss Armutskonferenz die Situation der Kinder immer wieder in die gesellschaftliche Debatte ein. So wird die 5. Armutskonferenz am 2. März zum Thema Migration stattfinden. Einer der Schwerpunkte wird Bildung sein.