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GEW Bremerhaven

Chancenlos in der BRD

Politiker:innen und Kommentator:innen äußerten sich nach den PISA-Ergebnissen Ende des vergangenen Jahres erneut „geschockt“. Aber warum nur?  

Einige Anmerkungen zur kurzfristigen Aufregung um den Tabellenplatz deutscher Schüler:innen in den weltweiten PISA-Charts.

Zweiundzwanzig Jahre PISA-Studien belegen immerhin eines: Die im Zusammenhang mit der Einschätzung der jeweiligen Resultate attestierte „Bildungskatastrophe“ ist solide betoniert. Wobei auch diese Formulierung fast noch zu harmlos erscheint. Die Autor:innen der jüngsten Studie ermittelten nämlich die schlechtesten jemals gemessenen Werte für deutsche Schüler:innen - zudem mit einem Abfall in einem noch nie registrierten Ausmaß.

Nicht vergessen sollte man bei der Einschätzung eventueller Perspektiven der Besserung, dass sich aus den letzten Untersuchungen von Grundschulkindern wenig Hoffnung ableiten lässt. Eine nicht unerhebliche Zahl dieser jungen Menschen konnte schlicht gesagt nicht hinreichend lesen, schreiben und rechnen. Versucht man mit diesem Wissen deren Leistungen für das „PISA-Alter“ (getestet werden dort weiterhin 15-jährige Personen) zu prognostizieren, spürt man sofort zumindest einige Befürchtungen hinsichtlich der dann zu erwartenden Daten.

„Wir müssen uns jetzt den Konsequenzen stellen“,

wird die bis Jahresende amtierende KMK-Präsidentin, die Berliner Senatorin Günther-Wünsch, zitiert (vergl. Pauli 2023). „Gerne doch“, möchte man ihr spontan zurufen.

Wir hätten in dieser Angelegenheit auch einige Anregungen. Zunächst einmal wenden wir uns den wirklich beschämenden Hintergrundergebnissen der neuen PISA-Studie zu. Jenseits der „nackten Zahlen“ fällt auf, dass die Gruppe der Leistungsstarken ab-, die der (ganz) Leistungsschwachen jedoch zunimmt. Und nur Zyniker können ohne Entsetzen feststellen, dass ein Befund über die Jahre konstant geblieben ist: Über den Schulerfolg in Deutschland entscheiden weiterhin die soziale Herkunft oder die mit der eigenen Familie verbundene Migrationsgeschichte. Um es mit Klaus Klemm zu sagen: Im Hinblick auf diese Kriterien kann nicht „auch nur annähernd von Chancengleichheit gesprochen werden“ (vergl. Klemm 2023). Die Armut macht letztendlich weiterhin den zentralen Ausschlussfaktor von gesellschaftlicher Teilhabe aus.

Wenn sich also, gewöhnlich nach wenigen Tagen, die mediale Empörung gelegt hat und andere Schlagzeilen in den Vordergrund drängen, der Gewöhnungseffekt bei schlechten Meldungen aus dem Bildungsbereich wieder Oberhand zu gewinnen droht, sollten wir auf die angekündigten Konsequenzen beharren. Wiederholt zugesagt, aber nie konsequent umgesetzt wurden u.a.:

  • Bildungsoffensiven im Vorschulalter mit gezielter Förderung gerade „benachteiligter“ Kinder, insbesondere unter dem Aspekt, Sprache zu lernen;
  • Ganztagsschulen als ganztägige Lerneinrichtungen, nicht nur als Betreuungsanstalten;
  • ausgewiesene und fachlich kompetente Unterstützung armer und zugewanderter Kinder und Jugendlicher.

Dazu kommt die Notwendigkeit, die Schulen in ihrer Gesamtheit weiterzuentwickeln. Die Bildungspolitik versagt, wenn ihre Vertreter:innen sich stattdessen hinter wohl formulierten Standards für den Unterricht verstecken.

Wenn es aber um die Schulen in ihrem Stellenwert insgesamt geht, gelangen wir zu den Auswirkungen der Schulmisere auf die gesamte Gesellschaft. Wenn es also nicht einmal gelingt, die seit 2001 mit der ersten PISA-Studie gemachten Versprechen auf Förderung der Benachteiligten zu halten, ist es kein Wunder, dass die Schule als bedeutende Institution der Gesellschaft in Frage gestellt wird. Und da gerade Kinder und Jugendliche mit Migrationsgeschichte zu den Verlierern des deutschen Schulsystems gehören, resultieren aus diesem Elend unmittelbar Steilvorlagen für die Rechten, sieht man, so ihre Polemik, jetzt doch ganz genau, wer dieses Land belastet.

Die politisch Verantwortlichen hätten Zeit und Gelegenheit gehabt, mindestens jene schon zitierten 22 Jahre, gravierende Änderungen vorzunehmen, ob nun hinsichtlich des Fachkräftemangels, der Etablierung von Förderstrukturen, der gezielten Bekämpfung der materiellen Mängel ganzer Bevölkerungsschichten oder der generellen Lern- und Arbeitsbedingungen in Bildungseinrichtungen. Diese Möglichkeiten des Eingriffs wurden aufgrund politischer Entscheidungen nicht genutzt. Ganz aktuell leitet sich daraus für das Land Bremen folgende Frage ab: Welchen Wert besitzt in diesem Zusammenhang ein Koalitionsvertrag, der eine Ausgabensteigerung bei Bildung auf das Niveau der anderen Stadtstaaten (jährlich 200 Mio. €) und eine Lehrkräfteversorgung von 110% als Ziel beschreibt (vergl. SPD u.a. 2023)?

Der „Schock“ (siehe oben) ist enttarnt als Heuchelei. Schließlich konfrontieren die PISA-Daten die Politik mit den Ergebnissen ihrer eigenen bildungspolitischen Entscheidungen.

Und somit, liebe Leserin, lieber Leser, ist es an der Zeit, uns selber den Ball des politischen Handelns zuzuspielen. Chancengleichheit und Demokratie bleiben lohnende Ziele, in den Prozess gesellschaftlicher Veränderungen einzugreifen. Die GEW wird dies in nächster Zeit tun und euch zur Teilnahme aufrufen.

Im Übrigen beinhaltet diese Geschichte, topp aktuell, auch eine klimapolitische Komponente, denn es erklärt sich so ganz nebenbei, warum die FDP ein Tempolimit derart vehement ablehnt: Ihre Funktionsträger:innen kennen ihre eigene „letzte“ Rettung - Hinein in den Porsche und ab durch die Mitte über die Autobahn!

Quellen:

  • GEW (2023): PISA-Ergebnisse spiegeln Lehr- und Fachkräftemangel wider, Pressemitteilung vom 5.12.23, Frankfurt
  • Klemm (2023): Elende Verhältnisse, taz vom 13.12.23, Seite 12
  • Pauli (2023): Im freien Fall, taz vom 6.12.23, Seite 3
  • SPD u.a. (2023): Veränderung gestalten: sicher, sozial, ökologisch, zukunftsfest, Koalitionsvertrag für die 21. Wahlperiode der Bremischen Bürgerschaft, Bremen