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Iran-Revolte

Blitzlichter einer Revolte

Notizen zum iranischen Faschismus und dem Kampf dagegen

Illustration: Martin Krämer | Freiburg

1. Was haben ein deutscher Asylrichter des Jahres 2006 und eine sich selbst als feministisch gerierende taz-Autorin des Jahres 2022 gemeinsam? Es handelt sich leider um keine Scherzfrage. Beide sind der Ansicht, der Schleierzwang im Iran sei lediglich Ausdruck kultureller Tradition. Eine Asylbewerberin hatte sich seinerzeit vor Gericht darauf berufen, um politische Verfolgung geltend zu machen. Im Urteil wird eine Kleiderordnung auf Basis staatlicher Gewalt zur kulturellen Gepflogenheit verharmlost. Dass widerständige Frauen Demütigung, eventuell auch Peitschenhiebe und Inhaftierung zu gewärtigen haben, erschien dem kulturalistisch verblendeten Richter wohl als eine Art landestypischer Sitte, so wie Safranreis und Granatapfelsoße. Der Antragstellerin wurde das Asyl verweigert. Taz-Journalistin Julia Neumann wiederum lieferte in einem Kommentar vom August dieses Jahres zu Frauenrechten im Nahen Osten ein Argument, was gut in die Urteilsbegründung gepasst hätte: Es käme ja auch niemand auf die Idee, Nonnen in Deutschland die religiöse Kluft abzusprechen. Das war auf die Aktivistin Masih Alinejad gemünzt, die im amerikanischen Exil die Kampagne „My Stealthy Freedom“ ins Leben gerufen hatte, bei der iranische Frauen sich ohne Kopftuch fotografierten und die Bilder in sozialen Medien veröffentlichten. Neumann sah darin eine Anbiederung an den Westen und spottete über „das bisschen Wind im Haar“. Sie wurde allerdings in den nächsten Wochen von einer ganzen Riege wütender, vorwiegend migrantischer Autorinnen eines Besseren belehrt. Die Schriftstellerin Shida Bazyar, sonst mit politischen Äußerungen eher zurückhaltend, sprach von einer dreisten Verhöhnung feministischen Widerstands.

2. Die wirkliche Widerlegung von Neumanns Dreistigkeit fand indes nicht im Feuilleton statt, sondern auf den Straßen des Iran. Allerdings musste eine junge Studentin dafür sterben, im 'Gewahrsam' der sogenannten Sittenpolizei. In den darauffolgenden Tagen brachen Massenproteste in allen Landesteilen der Islamischen Republik los. Angeführt wurden sie von Frauen, die das Kopftuch ablegten, mit ihm wie einer Fahne in der Hand auf den Straßen tanzten oder es verbrannten. Ein Heer von Twitter-Mitschnitten kündet von Menschen, die, nach den Worten Brechts, beschlossen haben, schlechtes Leben mehr zu fürchten als den Tod. Revolution ist ein großes Wort, aber wenn dazu die Schöpfung ikonischer Bilder gehört, dann ist das demonstrative Zeigen und Abschneiden des eigenen Haars schon jetzt zur revolutionären Symbolik des ersten feministischen Aufstandes geworden.

3. Seit über Hundert Jahren sind Frauen in islamischen Ländern dazu übergegangen, sich von tradierten Rollenbildern nicht mehr gängeln zu lassen. Urbane Enklaven moderneren Lebensstils entstanden. Dem aufkommenden Islamismus war das stets Inbegriff westlicher Verkommenheit. Er entwickelte die Strategie, solche Orte gewissermaßen kulturell zurückzuerobern. Männliche Familienmitglieder versuchte man bei ihrer unterstellten Ehre zu packen und fragte rhetorisch, ob sie es zulassen können, dass ihre Kinder Alkohol trinken und ihre Töchter ohne Hijab herumlaufen. Durchgesetztes Alkoholverbot, wieder eingeführte Verschleierungspflicht und Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum erweisen sich dann als sichtbare Herrschaftssymbole 're-islamisierter' Gebiete. Die algerische Feministin Naila Chikhi beschreibt diese Entwicklung am Aufstieg der 'Islamischen Heilsfront' während der Neunziger Jahre in ihrem eigenen Geburtsland. 

Der Iran kennt solche erzwungene 'Entmodernisierung' seit 1979, dem Jahr von Khomeinis Machtübernahme. Weibliches Haar gilt als sakralisierter Besitz des Gatten, ja eigentlich der ganzen 'Islamischen Republik', die quasi entehrt ist, wenn es öffentlich sichtbar wird. In diesem Sinne gehören Kontrollen durch die 'Sittenpolizei' zur entwürdigenden Normalität. Wie in anderen Gegenden, so zieht eine derartige Truppe auch im Iran autoritäre Charaktere an, hinter deren Sittenstrenge die Verklemmtheit des Zukurzgekommenen steht. Das Ressentiment gegenüber denjenigen, die den Mut zum Regelbruch haben, verschafft sich triumphierend Kompensation durch Schikane in vielerlei Formen: Verhören, Strafpredigten, Peitschenhieben. Übrigens können auch fremde Männer, insbesondere Mullahs, Frauen ansprechen und sich über deren 'unislamische' Kleidung beschweren.

4. Trotz brutaler Repression und weiteren ermordeten Oppositionellen, darunter etlichen Jugendlichen und Kindern, ebbten die Aktionen nicht ab. Versuche der Führung, sie durch Zensur der sozialen Medien im Keim zu ersticken, liefen ins Leere. Sie scheiterten an der schwer kontrollierbaren Spontaneität und Allgegenwart des Protestes, der in einem Moment Massen auf Straßen schwappte, im anderen staatliche Gegeninszenierungen durch Gesten der Verweigerung desavouierte. Studierende in Universitäten widersetzten sich der vorgeschriebenen Geschlechtertrennung und wagten es, gemeinsam das Mittagessen einzunehmen. Angehörige der Basiji-Miliz mussten Barrikaden zwischen Speisesälen errichten, um dem gottlosen Treiben Einhalt zu gebieten. Am nächsten Tag trafen sich die Protestierenden mit ihren Tabletts, zum Ärger der entnervten Milizionäre, einfach auf dem Außengelände. Der Protest wurde dezentral organisiert, war erfinderisch in der Schöpfung neuer Aktionsformen und dokumentierte sich unablässig selbst, um Öffentlichkeit zu schaffen. Prominente aus Sport und Kultur lancierten Zeichen der Solidarität und erfüllten so den Begriff der Zivilgesellschaft, im Westen zur Phrase verdorrt, mit neuem Leben. Der Rapper Toomaj Salehi wurde dafür verhaftet und ihm droht, wie etlichen anderen, die Hinrichtung. Lehrkräfte, die im Begriff waren, systemtreue Moralpredigten zu halten, wurden von ihren Schülerinnen ausgebuht. Ein politischer Bildersturm fegte die weißbärtigen Ayatollahs von den Wänden öffentlicher Institutionen. Wurden ihre Herrscherporträts von Schergen des Regimes neu aufgehängt, lagen sie am nächsten Tag wieder zerbrochen auf dem Boden und an der Wand stand, als rotes Graffiti: 'Frau! Leben! Freiheit!'. Jene ursprünglich kurdische Parole sieht Frauenrechte als Schlüssel zur politischen Emanzipation der ganzen Gesellschaft an, nicht nur, aber auch im Nahen Osten. Sie wurde zum gesamtiranischen Kampfruf der Revolte, skandiert auch von zehntausenden Männern.

5. Selbst eine Hymne schuf sich die Revolte. Mit „Baraye“ traf Shervin Hajipour die Unzufriedenheit großer Teile der Bevölkerung, indem er Zitate aus Facebook montierte und zur Abrechnung mit der iranischen Misere verdichtete. Thema ist nicht lediglich religiös-patriarchale Bevormundung, sondern auch Armut, Umweltverschmutzung, fehlende politische Rechte. Zwangsverschleierung ist längst nicht mehr das einzige Übel, gegen das gekämpft wird: Da der theokratische Staat selbst die islamische Geschlechterordnung zum existentiellen „Schlachtfeld“ erklärt hat – so der Chef der Revolutionsgarden, Hussein Salami – nehmen die Protestierenden ihn beim Wort. Zwar ist die Generation der gebildeten Mitzwanziger in einer für den Nahen Osten radikalen Weise säkular, doch auch erklärtermaßen religiöse Frauen haben das Kopftuch zumindest zeitweise abgenommen, um ihre Ablehnung erzwungener Frömmigkeit und all der anderen Übel auf Video zu dokumentieren. Geradezu Unerhörtes ist auf der Beerdigung des zehnjährigen Kian Pirfalak geschehen, der am Rande einer Demonstration im Auto durch Kugeln der Revolutionsgarden getötet worden war. Aufnahmen offenbaren die brüchige Stimme seiner Mutter während des Begräbnisses. In ihrer Rede fordert sie die Zuhörenden auf: „Rezitiert nicht den Koran! Mein Kind hasste den Koran!“. Noch erstaunlicher ist der darauffolgende Jubel.

Illustration: Martin Krämer | Freiburg

6. Je härter die paramilitärischen Revolutionsgarden vorgingen, desto größere Wellen schlug der Widerstand und verallgemeinerte sich, explodierte in den Regionen der ethnischen Minderheiten, griff auf Fabriken und ganze Stadtviertel über. Streiks wurden ausgerufen, unter anderem durch die Belegschaften der ökonomisch wie symbolisch bedeutenden Ölraffinerien. Nachdem die Flamme des Aufstands nicht mehr erstickt werden konnte, verfiel der Staatsapparat auf die Taktik gezielter Entführungen: Einzelne, sei es, um ein Exempel zu statuieren, sei es, weil man sie für Führungspersonen hielt, wurden aus der Menge gerissen, in zivil getarnte Autos gezerrt, inhaftiert, gefoltert. Bei einigen wurde kurzer Prozess gemacht, indem man sie – wie die Bloggerin Nika Shakarami –  von Hochhäusern warf oder ihre malträtierten Leichen, um Spuren zu verwischen, einfach irgendwo ablegte. Andere werden unter skurrilen Anklagen wie 'Aufstand gegen Gott' vor Gericht gestellt, worüber man lachen könnte, wenn die Strafe dafür nicht die Hinrichtung wäre. Etwa vierzehntausend Menschen sollen in berüchtigten Gefängnissen, allen voran dem von Evin, eingekerkert sein. Ein geifernder Mob unter den 'Abgeordneten' des Teheraner Parlaments verlangte den Strang für sie alle. Und doch ging die Revolte weiter, gewann sogar an defensiver Militanz: Auf verpixelten Nachtaufnahmen ist zu sehen, wie Stationen der Basiji-Miliz in Flammen aufgehen. Nicht zuletzt in widerständigen Gebieten wie den kurdischen, im geschichtsträchtigen Mahabad, gelang die vorübergehende Vertreibung der Milizen. Der Apparat entsandte eine Besatzungsarmee mit Panzern in die Stadt. Nun herrscht die Totenruhe des Ausnahmezustands. In anderen Regionen sprachen Demonstrierende prompt ihre Solidarität mit Kurdistan aus.

7. Angesichts solcher Standhaftigkeit war die Reaktion in den deutschen Medien seltsam verhalten. Wenngleich die notorischen Sondersendungen und gelegentliche Bekundungen von (pflichtschuldiger?) Betroffenheit zu hören waren, nahm das Thema erst langsam Fahrt auf und bis heute nicht so stark wie der Krieg in der Ukraine. Wochen nach Aminis Tod beklagt Navid Kermani in der ZEIT die 'geringe Solidarität der Deutschen'. Ähnliche Kommentare sind auch von anderen iranischen Stimmen zu hören. Über die Gründe lässt sich spekulieren. Vielleicht war manchen postmodern Verbildeten die Parole der Revolution suspekt, schließlich ist da glatt von Frauen, nicht von 'menstruierenden Personen' die Rede. Wo Menschen einfach protestieren, ohne sich vorher nach den in Berlin gerade gültigen Sprachregelungen zu erkundigen, ist ja wohl Vorsicht angebracht! Deutlicher scheinen die Motive der moskautreuen Fraktion zu sein: Sie hatte den Iran gerade als Bastion eines unbedingten Antiamerikanismus lieb gewonnen, auf den man die eigenen Sehnsüchte projizieren konnte. Entsprechend dürfte sich das eisige Schweigen von Sahra Wagenknecht erklären. Das Bremer Friedensforum entblödete sich 2020 nicht, den getöteten General der Revolutionsgarde, Qasem Soleimani, als 'international geachtete' Persönlichkeit zu preisen und seine Auslandseinsätze als reine Verteidigungsmaßnahme gegen die Vereinigten Staaten. Man käute also kritiklos iranische Staatspropaganda wieder. (Die Debatte dazu findet sich in blz, Ausgaben 1/2020 und 2/2020). Handfestere Interessen stehen hinter der abwartenden Haltung der deutschen Politik. Bundeskanzler Scholz schwieg wochenlang – ein Aufstand im Iran schien ihm kein Anlass für flammende Rhetorik, 'Zeitenwende' diesmal nicht nötig. Warum auch? Deutschland gehört zu den besten Handelspartnern des Regimes und dafür braucht es das Atomabkommen.

8. Unter den Äußerungen Baerbocks sticht jene theologische Expertise hervor, wonach das Mullah-Regime gar nichts mit Religion zu tun hätte. Da hat die Außenministerin wenig 'Awareness' bewiesen, schließlich muss ein Satz wie dieser die religiösen Gefühle der Ayatollahs aufs Gröbste verletzen. Haben sie etwa dafür jahrelang in Nadschaf und Qom schiitische Gelehrsamkeit studiert? Immer wenn es um die Verquickung von Politik und Religion geht, wird die altbekannte Leier von der missbrauchten Unschuld des Glaubens angestimmt. Gewiss lässt sich aus heiligen Büchern alles Mögliche herauslesen, Friedliches wie Unfriedliches. Gleichwohl waren es keine Außerirdischen oder 'zionistische Agenten', die 1979 die unter Führung Khomeinis die Macht übernommen haben, es waren Teile des islamischen Klerus. Die Spezifik ihrer theokratischen Ideologie entstand im Zuge der Neuinterpretation schiitischer Tradition: Nach den Dogmen der sogenannten Zwölferschia bedarf es eines Imams auf der Welt als Mittler zwischen Gott und den Gläubigen. Darin war die Schia immer schon 'katholischer' als die Sunna, zumal sie ihren historischen zwölf Imamen Unfehlbarkeit zusprach. Da der letzte der Zwölf allerdings nach theologischer Aufassung verschwunden ist, verhielt sich die Kleriker gegenüber weltlicher Macht eher ruhig, weil man ja nicht genau wissen konnte, was der verborgene Imam wünscht. Khomeini scharte einen Teil der Gelehrten hinter sich, indem er den umgekehrten Schluss propagierte: Solange das Imamat verwaist ist, sind die Rechtsgelehrten befugt, Herrschaft auszuüben oder als höchste geistliche Instanz ihre Ausübung zu überwachen. Die in den Jahrzehnten davor erfolgte ansatzweise Trennung von Kirche und Staat, mit der sich quietistische Ayatollahs ein Stück weit arrangiert hatten, wurde so widerrufen. Das Konzept der 'Islamischen Republik' war geboren.

9. Die Errichtung der theokratischen Diktatur im Iran war eine Gemeinschaftsproduktion verfeindeter Instanzen. Natürlich hat die Regionalpolitik der USA ihren Anteil daran: Durch den Putsch gegen Mossadegh 1953 ebenso wie durch die Unterstützung des Shahs. Beides trug zur nachvollziehbaren Delegitimation des Westens bei. Die antimonarchistischen Proteste der siebziger Jahre wurden allerdings von linken und demokratischen Kräften getragen, und es bedarf der Erklärung, weshalb sie sich darauf einließen, mit einem religiösen Führer zu kooperieren, der beispielsweise ein Jahrzehnt zuvor gegen die Einführung des Frauenwahlrechts plädiert hatte. Den ideologischen Hintergrund dafür bildet, was man Abkehr von den Grundsätzen der Aufklärung nennen könnte. Unter dem verhängnisvollen Schlagwort 'Westen' wurden die Brutalitäten kolonialer Herrschaft in einen Topf geworfen mit Errungenschaften wie dem Säkularismus oder den Prozeduren des Rechtsstaates. Die erkämpfte sexuelle Freiheit, sich nach Lust und Laune zu kleiden, wurde ohne größere Differenzierung als Ausdruck von Dekadenz oder westlicher Konsumgesellschaft diffamiert. Im Haß auf den Lippenstift konnten die alten religiösen Reaktionäre und die neuen linken Reaktionäre sich gleichermaßen wiederfinden. Davon mehr im zweiten Teil dieses Artikels.