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Analyse

Bildungsprozesse in der Krise

Wie das Corona-Virus das Lehren und Lernen privatisiert.

Elke Suhr, Jan Ströh, Barbara Schüll

Die zentrale These des Soziologen Oscar Negts lautet (und das bereits im Jahr 2004), dass die heutige Gesellschaft im Grunde ein „Anhängsel des Marktes“ sei.  Das Bildungssystem, welches wir heute haben, mobilisiere, so der Soziologe damals in einem Interview, gegenüber den Privatisierungsstrategien viel zu wenig „Gegenkräfte“ und sei ein System, das sich den neoliberalen Strömungen einordnet.  Dass Negt hier wohlmöglich recht hat, möchte ich im Folgendem anhand ausgewählter Aussagen Negts und passenden Beispielen aus den letzten Wochen im Bildungsbereich illustrieren.


Anhand ausgewählter Thesen Negts, wird deutlich, dass die Corona-Krise im Grunde das zu Tage befördert hat, was sonst eher verdeckt bzw. „schleichend“  passiert – und das bereits mindestens über die letzten 10 Jahre hinweg: „öffentliche Verantwortung, öffentliche Erfahrungs- und Bildungsräume [werden] privatisiert“.


Dass Bildung und Lernen in den letzten Dekaden noch nie so „privat“ war, wie wir es in Zeiten des Corona-Modus erlebt haben (und vielleicht noch erleben werden müssen), wird am eklatantesten am „Lockdown“ deutlich, der durch die vorübergehende Schließung vieler Bildungseinrichtungen dafür gesorgt hat, dass der „Bildungsprozess dem elterlichen Haushalt überlassen“ wurde, also somit komplett „privatisiert“ wurde. 

Zusätzlich zu der in Bremen ohnehin „extrem hohen Selektivität im Bildungssystem“ (die Art der Schulabschlüsse schwanken z.T. stark zwischen den Ortsteilen und Quartieren) kommt nun durch das „Homeschooling“ ein zusätzlicher, sehr starker Faktor sozialer Selektion hinzu: Das Elternhaus ist für den Bildungsprozess verantwortlich. Nun zu den zentralen Thesen Negts:

„Persönlichkeitsbildung tritt zugunsten eines sehr leistungsorientierten, pragmatischen Bildungsbegriffs zurück“

Die Debatte um das Abitur und/oder die Zentralen Abschlussprüfungen in Jahrgang 10 zeigt, dass selbst in diesen Krisenzeiten, die Leistungen gegenüber dem Kindeswohl vorgingen. Anstatt vor allem besonders benachteiligte Kinder schnell in die Einrichtungen zurückzuholen, die (z.B.) in armen Quartieren leben und/ oder von Armut und Gewalt betroffen sind, wurden Schulen für die Abschlussjahrgänge geöffnet, während Beschäftigte in Schule (aber auch Kitas) – teilweise unter abenteuerlichen Anstrengungen versuchten, besonders bedürftige Schüler*innen zu erreichen und zu stabilisieren.


Negt weiter: „Der Privatisierungswahn […] suggeriert, dass jedes öffentlich entstandene Problem individuell, also privat lösbar ist“ : Diese These lässt sich sowohl auf das Konzept des „Homeschooling“ als auch auf die Situation der Beschäftigten zuhause an ihren (privaten) Endgeräten beziehen. In einem zunächst weitgehend privat gestaltetem „Just-in-time-Lernen“ bildeten sich Kolleg*innen während der „Osterferien“ mittels Internet über die Verwendung von Plattformen und online-tools fort, telefonierten und chatteten bei völlig entgrenzter Arbeitszeit mit Schüler*innen und stellten Material auf itslearning (die Bremer Lernplattform) – fast immer unter Verwendung privater Endgeräte. Vormals pädagogische „Autonomie“ und „Handlungsspielräume“ wurden hier, unter dem Hinblick der Verwaltung eigener (wohlgemerkt: privater) Ressourcen inhaltlich umgedeutet und auf die Spitze getrieben. Im Präsenzunterricht brachten Kolleg*innen eigene Schutzmasken, ja, kauften eigenes Spül- und Desinfektionsmittel, um nach jedem Lerngruppenwechsel Tische und Türklinken zu säubern – Lichtschalter auch – natürlich auf eigene Gefahr. Hier zeigt sich die von Negt angesprochene „schleichende“ Wandlung „in der Symbol- und Begriffswelt – zum Beispiel bei Begriffen wie Autonomie oder Eigenverantwortung.“ 

Die Lehrkraft als neue Ich-AG musste sich fließend zwischen Präsenz- und Online-Angeboten hin und her bewegen – ein Gefühl der allseitigen Verfügbarkeit konnte sich einstellen.

Viele Kolleg*innen empfanden es so. Phänomene, die sich in vielen Teilen der Arbeitswelt bereits etabliert haben, fanden nun (quasi über Nacht) Eingang in den Bildungsalltag. Natürlich soll hier nicht behauptet werden, dass jede plötzliche Neuerung per se schlecht sei, doch viele Neuerungen führten zur Arbeitsverdichtung und wurden unter den herrschenden Umständen zur psychischen Belastung.