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Kolonialismus im Unterricht

Befreiung und Nationalismus

Der Widerstand gegen die Apartheid und die nationale Frage im ANC. Zweiter Teil

Walter Sisulu: Kommunist im ANC

Auf Twitter und in den Talkshows reüssiert im Moment die postkoloniale Mode einer starren Gegenüberstellung 'schwarzer' und 'weißer' Kultur. Gemäß einem moralisierenden Narrativ bestand die europäische Expansion wesentlich in einer Überwältigung der einen durch die andere. Dabei zeigt die reale Geschichte der (De)-Kolonialisierung das reine Gegenteil, nämlich einen beständigen kulturellen Austausch, der gerade auf der Seite der Unterdrückten zu synkretistischer Verschmelzung und Rekombination von eigenen Traditionselementen mit neuen Ideen führt, vor allem aber zur Umdeutung der dominanten kolonialen Ideologien im Sinne einer Emanzipation von europäischer Herrschaft. Gerade die bedeutendste Organisation im Kampf gegen die Apartheid, der Afrikanische Nationalkongress (ANC), ist ein Exempel dafür.

Von der Mitsprache zur Umwälzung

In seinem Bildungsprozess 1912 war er durch das Vorbild des Indischen Nationalkongresses inspiriert: Wie bei diesem in seinen Anfängen war auch hier eine kleine Gruppe gebildeter  schwarzer Honoratioren aus einflussreichen Familien prägend, die durch den Beweis ihrer Ebenbürtigkeit mit den Weißen an deren Herrschaft partizipieren wollte. Dies änderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, als eine radikalere junge Generation von Funktionären zur Macht drängte, allen voran Nelson Mandela. Obwohl auch er Sproß eines bekannten Xhosa-Clans war, verwarf er das Buhlen um Anerkennung bei den Herrschenden zugunsten der Forderung nach Demokratisierung Südafrikas auf nationaler Basis. Sozialisiert in christlichem, wenngleich befreiungstheologisch gewendetem Geist, ermutigt durch Befreiungskämpfe anderswo und die Atlantik-Charta von 1942, glaubte Mandela das Ende kolonialer Unterdrückung gekommen.

Kein Weg zurück

Der Abschied von der Akzeptanz britischer oder burischer Vorherrschaft hieß umgekehrt nicht Rückkehr zur vorkolonialen autochthonen Traditionen. Das Streben nach Unabhängigkeit wird vielmehr von dem Wunsch getrieben, an den Segnungen der Moderne teilzuhaben – aus ihr war schließlich den Kolonialmächten die militärische und technologische Überlegenheit erwachsen, mit der sich eine ganze Welt unterwerfen ließ. Wollte man gleichziehen, galt es die Voraussetzungen für eine Blüte von Industrie und Wissenschaft auch im eigenen Land zu schaffen, das bislang aus kolonialen Kalkulationen heraus im unterentwickelten Status gehalten wurde. Aus dem Mund des kurzzeitigen ANC-Vorsitzenden Anton Lembede klang das 1945 so: „Es ist die Wissenschaft, die uns helfen wird, uns dem westlichen Lebensstandard anzunähern und den Nebel von Ignoranz und Aberglauben zu zerstreuen.“

Das europäische Modell der Nation

Auf der Suche nach Leitideen orientierte man sich am Nationalstaat europäischer Prägung. Überkommene Elemente eigener Kultur werden als rückständig verworfen, wo sie der Aufklärung widersprechen, etwa die auch in Afrika verbreiteten Hexenjagden oder Formen der Sklaverei. Wo sie sich in die neue Zeit integrieren lassen, sind sie willkommen als Demonstrationsobjekte gegen kolonialen Überlegenheitsdünkel oder werden als kulturelle Symbole künftiger nationaler Einheit neu interpretiert. Lembede, oben noch Parteigänger der Wissenschaft, fällt auf einmal in eine obskure Diktion, wenn er das kulturell Eigene anspricht: „The African natives (...) live and move and have their being in the spirit of Africa, in short, they are one with Africa.“ Die beschworene unio mystica zwischen dem afrikanischen Volk und seinem heiligen Boden soll Stammeskonflikte überwinden; ironischerweise ist gerade die gedankliche Konstruktion einer solchen vorstaatlichen kulturellen Volkseinheit ein ideologisches Importprodukt aus Europa, wo schon im 19. Jahrhundert der Cheruskerfürst Arminius zum 'ersten Deutschen' gekürt werden musste, um gemeinsamen Wurzeln für den kleindeutschen Nationalstaat zu fingieren. Begriffe wie der einer 'nationalen Renaissance' folgen derselben (Un-)Logik: Als ob die Idee der Nation nicht durch den Kolonialismus überhaupt ins Land gekommen sei, sondern schon vorher dort existiert habe und nun gewissermaßen aus historischem Schlummer erwache.

Sprachpolitische Verwerfungen

Diese Ambiguität gegenüber eigenem Traditionsgut spiegelt sich exemplarisch im Verhältnis zur Sprache: Der Wortschatz der Stammesdialekte wird zwar für eingängige Parolen bemüht – etwa das bekannte 'Amandla!: Kraft – taugt aber nicht als Nationalsprache. So zufällig wie die nach kolonialen Kriegen gezogenen Grenzen, so zufällig war gerade in Afrika oft die ethnische Zusammensetzung der darin lebenden Gruppen. Die Sprache der Kolonialmacht als Lingua franca zu übernehmen, war eine diplomatische Form, tribale Rivalitäten zu vermeiden. Auch im bekannten Soweto-Aufstand 1976 kämpften erboste Jugendliche zwar gegen die Verpflichtung auf Afrikaans als Unterrichtssprache, taten dies jedoch nicht zu Gunsten ihrer jeweiligen afrikanischen Idiome, sondern im Namen des Rechts, Englisch als Bildungssprache zu pflegen. Die Regionalsprachen der Homelands waren ja mitnichten verboten, wurden durch das Regime der Apartheid in einem bescheidenen Maß sogar gefördert: Wer sich etwa als Zulu fühlte, würde, so das politische Kalkül, eher dem Separatismus zuneigen als der nationalen Befreiung.

Ethnisches Nationenverständnis

Die Neuformierung des Kongresses nach 1945 führte indessen zu inhaltlichen Debatten über die Frage, wie Südafrika als zukünftige 'Nation' eigentlich zu denken sei. Ein afrikanistischer Flügel, dem Lembede angehörte, verknüpfte Volkszugehörigkeit exklusiv mit schwarzer Hautfarbe. Der weißen und indischen Minderheit sollte Zugang zur Staatsbürgerschaft gleichsam als Privileg gewährt werden, sofern diese die Vorherrschaft der Schwarzen anerkenne. Im Raum stand ebenso die Möglichkeit ihrer Vertreibung. Wie bei jedem völkischen Nationalismus manifestierte sich dessen aggressive Seite im Verhältnis zu den Minderheiten: Menschen indischer Herkunft, mochten ihre Familien auch schon seit Hundert Jahren in Südafrika leben, galten als Fremde. Mehr noch, weil etliche von ihnen im Handel tätig waren, wurde ihnen das aus dem Antisemitismus bekannte Stereotyp des Wucherers angehängt. Die Gewalt, zu der solches Denken führen muss, entlud sich in den Durban Riots vom Januar 1949, wo Schwarze ein Pogrom an hunderten indischen Geschäftsleuten und deren Familien verübten. Der afrikanistische Flügel des ANC verteidigte es zwar nicht offen, reproduzierte in seiner völkischen Ausrichtung allerdings die zugrundeliegenden Ressentiments.

Universalistisches Nationenverständnis

Gewissermaßen universalistisch war die Gegenposition: Sie verfocht das Modell eines Nationalstaates nach französischer Tradition entsprechend der Zugehörigkeit des Einzelnen zum Territorium, ohne Ansehen von Herkunft und Hautfarbe, was Menschen britischer, indischer und sogar burischer Herkunft einschloss. An der Durchsetzung dieses Universalismus keinen geringen Anteil hat eine Partei, die seit den späten fünfziger Jahren immer größeren Einfluss im ANC entfalten wird: Die Kommunistische Partei Südafrikas (SACP). Klassischer leninistischer Anschauung folgend, strebte sie eine sozialistische Gesellschaft als Endziel an, sah gleichwohl die Errichtung einer bürgerlichen Demokratie als notwendige Vorstufe dazu und den ANC als organisatorischen Rahmen dafür.

Kommunistischer Einfluss

Kurze Zeit nach ihrer Gründung 1921 hatte sie sich und auch ihre Führungsgremien für Mitglieder aller Hautfarben geöffnet und stellte damit die einzige gemischte Gruppierung in Apartheidzeiten mit antikolonialer Ausrichtung dar. Prominente weiße Kader waren Dennis Goldberg, Joe Slovo und Ruth First, deren Familien vor dem Antisemitismus aus Europa geflüchtet waren. Als farbiges Mitglied im Zentralkomitee wurde Walter Sisulu bekannt, der zugleich repräsentativ für das kommunistische Engagement innerhalb des ANC steht, dem er bereits 1952 als Generalsekretär diente. In den Siebziger Jahren soll etwa die Hälfte der Mitglieder der ANC-Führung zugleich in der 'Partei' gewesen sein. Gerüchte über Mandelas Mitgliedschaft ließen sich nie beweisen, sein politisches Umdenken unter dem Einfluß kommunistischer Genossinnen wie Ruth First ist jedoch belegt: Er sagt sich von seiner afrikanistischen und übrigens auch antikommunistischen Haltung los und schließt sich dem universalistischen Flügel an. Das macht den Weg frei für das bekannteste Gründungsdokument des Kampfs gegen die Apartheid – die Freedom Charter.

Separatistischer Nationalismus

Mit Buthelezi und seiner Inkatha Freedom-Party erwuchs dem ANC in den Siebziger Jahren ein machtvoller Gegenspieler. Der Nachkomme eines bekannten Zulu-Hauses von angeblich königlicher Herkunft teilte anfangs die Position der Freedom-Charter, zog sich jedoch den Zorn des Nationalkongresses zu, nachdem er sich dafür hergab, das von der Regierung für die Zulu festgelegte Territorium Kwazulu Natal zu regieren. Als ideologischer Überbau seiner Präsidentschaft einschließlich der Einsetzung eines Verwandten als 'König' dienten Reminiszenzen an die glorreiche und kriegsträchtige Stammesgeschichte. Damit verstieß er gegen eine zentrale Forderung des ANC: Totalboykott der Bantustan, die nichts als ein Ausdruck des verhassten, staatlichen inszenierten Tribalismus waren. Während des Verhandlungsprozesses Ende der Achtziger versuchte Buthelezi, seinem Gebiet föderale Rechte zu verschaffen, um seine Machtposition zu sichern. Sie schien ihm gefährdet angesichts der ANC-Forderungen nach einem starken Zentralstaat. Aus Furcht vor der landesweiten Dominanz der Xhosa schreckte er nicht davor zurück, in Verhandlungen mit der burischen Nationalen Partei und in verdeckten Aktionen mit dem Sicherheitsapparat des Staates gemeinsame Sache zu machen. Noch bis 1994 dauerten die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Inkatha und ANC mit Tausenden von Toten. In den Hollywoodfilmen über das Ende der Apartheid kommt dieses Kapitel selten vor.

Lob der kulturellen Aneignung

Politische Schicksalsfragen entzweiten den Widerstand gegen die Apartheid also in vielerlei Hinsicht. Ethnisches Nationenverständnis brachte sich gegen universalistisches in Stellung, Tribalismen sollten überwunden werden und kehrten doch zurück. An der Frage der künftigen Wirtschaftsordnung, ob kapitalistisch oder sozialistisch, schieden sich die Geister. In keiner einzigen dieser Debatten standen sich eine abstrakt weiße europäische und eine abstrakt schwarze oder afrikanische 'Kultur' gegenüber. Eher ging es um politische und ökonomische Konzepte und Interessen. Kulturelle Prägung mochte hineinspielen, diente aber oft zur ideologischen Überhöhung der eigenen Position, wie etwa bei Buthelezis Glorifizierung der Zulu-Tradition. Wer auf einem Kreuzzug gegen 'Eurozentrismus' ist, müsste daran irre werden, dass die meisten Ideen, welche propagiert wurden, aus Europa exportiert waren, allen voran die der Nation. Dagegen spricht jedoch: Gedanken sind niemals das Eigentum eines Kontinents. Jeder denkende Mensch kann sie prüfen und gegebenenfalls übernehmen. Das ist das Großartige an der menschlichen Fähigkeit zur kulturellen Aneignung, die recht eigentlich gar keine kulturelle ist.