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Schulpolitik

Aktualisierte Kontinuität zwischen 2001 und 2025

Die neuen „Schulpolitischen Positionen“ der GEW

Es ist dem Organisationsbereich Schule beim Hauptvorstand der GEW nicht hoch genug anzurechnen, mit welcher Stringenz und Energie er diesen Prozess der Überprüfung eines der grundlegenden Dokumente unserer Organisation umgesetzt hat. Den Ausgangspunkt bildete ein Antrag der Landesverbände Hamburg und Bremen für den Bundesgewerkschaftstag 2021. Um die Jahrtausendwende, daran sei erinnert, stand unsere Gewerkschaft vor der Aufgabe, höchst unterschiedliche pädagogische und gesellschaftspolitische Erfahrungen der Mitglieder aufeinander zu beziehen. Gut zehn Jahre nach der Zusammenführung beider deutscher Staaten gelang auf dem Bundesgewerkschaftstag 2001 in Lübeck mit den „Schulpolitischen Positionen“ eine Einigung über unser Verständnis von Schule mit einer Gültigkeit für alle 16 Bundesländer. Vier Jahre später folgten die „Bildungspolitischen Reformpositionen“, welche unsere Perspektiven von Bildung und Erziehung erweiterten. Geprägt waren diese Überlegungen von einem humanen Menschenbild, Überzeugungen wie Chancengleichheit, Gerechtigkeit und Demokratisierung sowie einer Entwicklungsrichtung hin zu einem langen gemeinsamen Lernen in einer Schule für alle.

20 Jahre später

In den Landesverbänden Hamburg und Bremen wurden Diskussionen um eine notwendige Aktualisierung dieser „Positionen“ geführt. Diese waren geprägt von der Idee, weiterhin an verabredeten Grundsätzen festhalten zu wollen, gleichzeitig sich allerdings nicht den fortschreitenden Veränderungen in Gesellschaft und Pädagogik zu verschließen. Eine wichtige Rolle spielten dabei:

  • die Serie der „PISA-Schocks“ seit 2001 sowie die daraus abgeleitete Gründung von Instituten für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen auf Landes- und Bundesebene;
  • ein damit verbundenes verändertes Verständnis von Qualität, geprägt von Standards, Kompetenzen, der Bedeutung von Prüfungen und der Zentralisierung von Aufgabenerstellungen zwecks einer vermeintlichen „besseren Vergleichbarkeit“ sowie einer Verengung des Leistungsbegriffs;
  • die vehemente Verteidigung des Gymnasiums in Kontrast zu „Eine Schule für alle“, Inklusion und UN-Behindertenrechtskonvention;
  • die weiterhin gültige erhebliche Unterfinanzierung des Bildungswesens – trotz der Versprechen auf dem „Bildungsgipfel“ 2008 – und der daraus resultierenden stetigen Belastungssteigerung der Pädagog*innen;
  • die generellen Erosionen im demokratischen Gefüge dieses Landes und das unverhohlene Agieren rechtsradikaler Gruppierungen sowie das offene Vertreten ihrer Überzeugungen;
  • ein Weltbild ganz im Gegensatz etwa zur gewerkschaftlichen Solidarität;
  • die alltäglichen „Schlüsselkrisen“ dieser Welt: Corona, Krieg, Klima, Digitalisierung.

Allein diese wenigen Stichworte stützen die Idee eines Überdenkens unserer Positionen nachdrücklich. Hinzu kommen Veränderungen in der Mitgliedschaft unserer Organisation: Deren heutige Zusammensetzung muss über Neubestimmung oder Bestätigung unserer Leitlinien entscheiden. Gefordert ist also eine „innere Verständigung“ um auf die Inhalte einer allseitigen Bildung und deren Durchsetzung. Auch Strategien und Maßnahmen sind somit auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen.

Das Verfahren

Schon in ihrem Antragstext verweisen die Kolleg*innen aus Hamburg und Bremen darauf, dass alle Landesverbände und die Bundesausschüsse der GEW beteiligt, die Zwischenergebnisse immer wieder zur Diskussion gestellt und eine Neufassung dem Gewerkschaftstag 2025 vorgelegt werden sollen. Dies ist, wie eingangs erwähnt, bislang vorbildlich gelungen. In drei Regionalkonferenzen brachten Delegierte den Stand der Erörterungen aus ihren Bundesländern ein, ebenso die Mitglieder der Bundesausschüsse aus ihren Zuständigkeitsbereichen. Einbezogen wurden zudem neuere Beschlusslagen der GEW und Veröffentlichungen mit Resultaten gewerkschaftlicher Tagungen, Konferenzen und Foren, wie zur Lehrer*innenbildung, Digitalisierung, Privatisierung oder der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Wissenschaftliche Referent*innen brachten zudem frische Erkenntnisse zu ihren Forschungsschwerpunkten ein. Deren Bandbreite erstreckte sich von Überlegungen zur „Schule im Krisenmodus“ (Prof. Dr. Bremm) über „Strukturelle Herausforderungen des deutschen Schulsystems“ (Prof. Dr. Helbig) bis hin zu „Wert, Preis und Anspruch schulischer Bildung“ (Prof. Dr. Wrase) und „Schule und die Aufgabe der Bildung“ (Prof. Dr. Pollmanns). Alle diese Beratungen wurden nunmehr im Juni 2024 auf einer Bundeskonferenz miteinander in Beziehung gesetzt unter dem Motto: „Perspektiven verbinden – Ziele klären – Wege ebnen“. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass die „Neuen Schulpolitischen Positionen“ – wie die alten – zwanzig Jahre lang Gültigkeit behalten sollen.

Alte und neue Kapitel

Der Bundeskonferenz vorgelegt zur nochmaligen Durchsicht hatte das Koordinierungsteam ein sog. „Prozesspapier“ mit Textvorschlägen. Wenngleich manche Passagen noch vorläufig sind, sich einige redaktionelle Überarbeitungen abzeichnen und weitere von der Konferenz eingebrachte Änderungen berücksichtigt werden, so zeichnen sich doch sehr deutlich das Gerüst des neuen Textes und bedeutende Aussagen ab. Gegliedert sind die neuen Leitlinien nunmehr in sechs Kapitel:

1. Grundsätze

Ein „Recht auf Bildung“ ist in einer Vielzahl der Bundesländer in den jeweiligen Verfassungen verankert, verbleibt dort aber häufig im Allgemeinen. Um im gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu bestehen, bedarf es dessen Konkretisierung durch die GEW, getragen von ihrem Selbstverständnis. In diesem Sinne sind die „Grundsätze“ weiterhin geprägt von einem humanen Menschenbild, einer Orientierung an emanzipatorischen Bildungsreformen, einer Staatlichkeit des Schulwesens, welche der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft entgegentritt, der Entwicklung starker Persönlichkeiten und dem Festhalten an „Einer Schule für alle“. Damit gehört das gesamte Schulsystem auf den Prüfstand. Eine strategische Diskussion zur Umsetzung der Inklusion ist gefordert.

2. Umfassend und allgemein bilden und erziehen

Die GEW behält den offenen Horizont der „Schulpolitischen Positionen“ von 2001 bei. Bedeutsam bleiben die dort eingebrachten Prinzipien wie Chancengleichheit, Demokratie, Achtung, Selbst- und Mitbestimmung sowie Solidarität. Ein zeitgemäßer Begriff von Allgemeinbildung ist zu formulieren, inklusives Lernen zu ermöglichen, individuelle Förderung und gemeinsames Lernen sind zusammenzufügen. Angestrebt wird eine Bildungsbereitschaft mit früh und breit aufgebauten Interessen. Mithin liegt dem Bildungsbegriff ein entfaltetes Verständnis zu Grunde. In diesem Kontext näher ausgeführt werden:

  • die Entwicklung von Sprachkompetenz und die Förderung von Mehrsprachigkeit;
  • eine Digitalisierung, die das Primat der Pädagogik vor der Technologie achtet;
  • die Verankerung von Bildung für nachhaltige Entwicklung als Kernaufgabe im Bildungsbereich.

3. Demokratie verwirklichen

Schulen benötigen, so der Tenor dieses Abschnitts, lebendige demokratische Strukturen. Daraus leitet sich die Forderung nach umfassender und echter Beteiligung aller Menschen am Schulgeschehen und an Lernprojekten ab. Das geschieht auf mehreren Ebenen:

  • generell sind Zeit und Raum für demokratische Prozesse bereitzustellen;
  • die universellen Kinderrechte gelten uneingeschränkt;
  • Pädagog*innen lehren nicht nur Demokratie, sondern nehmen ihre eigenen Mitbestimmungsrechte aktiv wahr;
  • die GEW als Gesamtorganisation stärkt ihre Mitglieder fachlich und stützt deren Engagement organisatorisch.

Die konkrete Bedeutung von „gewerkschaftlicher Solidarität“ ist im innergewerkschaftlichen Diskurs zu bestimmen.

4. Qualität entwickeln

Qualität, das ist der Leitgedanke, ermisst sich am Bildungswert des schulischen Lernens für eine demokratische Gesellschaft. Damit begibt sich die GEW in die Auseinandersetzung um einen „schillernden Begriff“. Idealtypisch gegenüber stehen sich zwei Auffassungen von Bildung: Zum einen beherrscht die Ökonomisierung die Richtung, zum anderen das Menschenrecht. Für die GEW gilt als Ziel von Qualitätsentwicklung ein inklusives, chancengleiches, leistungsfähiges und demokratisches Schulwesen, in welchem sich kritikfähige, gestaltende und mündige Bürger*innen entwickeln können. Dazu bedarf es grundlegender Voraussetzungen, die sich u.a. auf Arbeits- und Lernbedingungen, Wohlbefinden und Gesundheit, Zeit und Finanzierung sowie gut ausgebildete Fachkräfte beziehen.

5.  Aspekte einer strukturellen Weiterentwicklung des Schulwesens

Aus dem eingebrachten Bildungsverständnis resultiert die Konsequenz, eine Struktur der „Einen Schule für alle“ anzustreben. Diese Überzeugung erfordert auch zukünftig eine ausgeprägte Konfliktfähigkeit um die Wirkungen der Säulenmodelle in den verschiedenen Bundesländern. Kein Säulenmodell allerdings löst die Probleme des gegliederten Schulsystems. Mit einem stimmigen Gesamtkonzept führt die GEW eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung um ein längeres gemeinsames Lernen. Maßgebend dabei ist ein gewerkschaftlich bestimmtes Verständnis von Inklusion, welches Haltung und Umsetzungsbedingungen austariert. Die GEW unterstützt deshalb Planungen in den Bundesländern, die das Ziel „Eine Schule für alle“ konkretisieren und verbindliche „Meilensteine“ auf dem Weg dorthin definieren, denn: Gerade anspruchsvolle Reformen leben vom erlebten Erfolg. Eine Absicherung erfahren diese durch eine kontinuierliche Bildungsplanung, eine inklusiv ausgerichtete Bildungsforschung sowie den Kampf gegen strukturelle Überforderung der Schulen.

6. Gute Lern-, Arbeits- und Rahmenbedingungen für Schüler*innen und Pädagog*innen

Die Bedingungen, diese Aussage zieht sich durch das gesamte Papier, müssen grundlegend verbessert werden. Benachteiligung ganzer Schüler*innengruppen, fehlende Initiativen der KMK für eine Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive sowie vernachlässigte Schulgebäude schränken eine solidarische und demokratische Schulentwicklung ein. Eine bedarfsgerechte und regelhafte Finanzierung würde es erleichtern, dass

  • Schüler*innen Demokratie, Teilhabe und Selbstwirksamkeit erleben;
  • Pädagog*innen Arbeits- und Gesundheitsschutz erfahren, ebenso eine wirkungsvolle Interessenvertretung umsetzen;
  • Kollegien zeitgemäße Raumkonzepte realisieren können, um in multiprofessionellen Teams zu arbeiten.

Der redaktionell überarbeitete Text wird im Spätherbst dem Hauptvorstand zu einer ersten Würdigung vorgelegt. Anschließend geht die endgültige Fassung in die Antragsberatung zum Bundesgewerkschaftstag 2025 ein. Dessen ungeachtet zeichnen sich in den Debatten zwei Schwerpunkte ab, die in folgenden Ausgaben des bildungsmagaz!ns vertieft werden sollen: Gemeint ist einerseits die Strukturfrage um die Umsetzung „Einer Schule für alle“, andererseits eine Verständigung über heutige Anforderungen an die Allgemeinbildung.

  • Quellen: 
    Bensinger-Stolze (2024): Schulen der Zukunft, Vortrag auf der Pädagogischen Woche Bremerhaven
  • Bensinger-Stolze (2024): Prozesspapier: Textvorschläge für die künftigen Schulpolitischen Positionen der GEW, Dresden
  • GEW (2002): Bildung braucht Zukunft, Schulpolitische Positionen der GEW, Frankfurt a.M.
  • GEW (2005): Bildungspolitische Reformpositionen, Antrag 3.1 zum Bundesgewerkschaftstag in Erfurt, Frankfurt a.M.
  • GEW (2021): Schulpolitische Positionen 2021 Bildung – Zukunft – Gewerkschaft, Antrag 3.25 zum Bundesgewerkschaftstag in Leipzig, Frankfurt a.M.