Zum Inhalt springen

Identitätspolitik

Abwege eines postmodernen Großdenkers

Die Phantome des Monsieur Foucault (Fortsetzung)

flickr.com

Bei Foucaults kurzzeitiger Begeisterung für Khomeini und dessen islamische Revolution im Jahre 1979 stellte sich in der letzten Ausgabe die Frage, was ein als Machtkritiker geltender Gelehrter an der Ideologie des Gottesstaates schiitischer Prägung reizvoll gefunden haben mochte. Die Soziologin Janet Afary und der Historiker Kevin Anderson sind diesem Widerspruch nachgegangen. Von Foucaults Flirt mit dem politischen Islam handelte daher der erste Teil dieses Artikels. Im zweiten wird die Vernunftkritik, die für Foucault und andere postmoderne Ansätze geradezu konstitutiv ist, beleuchtet. Das macht einige historische und philosophische Abschweifungen nötig.

Historisches

Die öffentliche Debatte der Nachkriegszeit war in Frankreich, wie anderswo auch, geprägt vom Nachwirken des faschistischen Grauens, das wie ein Spuk verschwunden, aber bekanntlich auch dort keineswegs verarbeitet war. Zwar zielte die ostentative Beschwörung der Resistance darauf, jegliche Erinnerung an die Kollaboration zu tilgen, doch das Manöver war leicht zu durchschauen. Andererseits war die französische KP, trotz ihrer Verdienste im Kampf gegen Hitler, aufgrund ihrer Verstrickung in den Stalinismus als geistige Heimat für Intellektuelle fragwürdig geworden. Die totalitäre Erfahrung hatte sich im Existentialismus Sartres als emphatische Bejahung individueller Freiheit niedergeschlagen. Gerade im Angesicht drohender übermächtiger Apparate war es möglich, musste es möglich sein, sich zu verweigern. Das verstand sich als Plädoyer fürs 'Engagement' und den Mut zum Neinsagen.

Das postmoderne 'Paradigma'

Kritik daran kam nicht nur von rechts. In verschiedenen (post-)strukturalistischen Ansätzen wurde im Laufe der Sechziger postuliert, Sartres erklärter Humanismus sei seinerseits bloß Ideologie des herrschenden 'Systems'. Anstatt die Bedeutung des Individuums philosophisch zu retten, müsse es ideologiekritisch zerpflückt werden. Schon der Begriff des Subjekts sei problematisch, der einzelnen Mensch, weit davon entfernt, sein Schicksal zu meistern, befinde sich im Griff von Strukturen, d.h. symbolischen Ordnungen – allen voran: der Sprache – und der Glaube an seine autonomen Potentiale sei nur ein Element herrschenden Diskurses, also: Verblendung.

Kritik der Humanwissenschaften

Foucaults Denken ist gezeichnet durch solche postmoderne Vernunftkritik, insbesondere im Gedanken des 'Verschwinden des Subjekts', wie er selbst es genannt hat. Bereits in seiner Studie über den Wahnsinn zeigt sich dies in dem Versuch, einen vorgeblichen dritten 'neutralen' Standpunkt einzunehmen, der gegenüber wissenschaftlicher Rationalität wie auch dem von dieser als 'Wahnsinn' Definierten in Äquidistanz steht. Nichts gegen das Anliegen, die gesellschaftlichen Einflüsse in vermeintlich rein wissenschaftlichen Machwerken aufzuzeigen. Werden im frühen 19. Jahrhundert beispielsweise Fleiß und Religiosität als Indikatoren geistiger Gesundheit gefasst, so spielt zweifellos die Propaganda bürgerlicher Arbeitsethik in solche scheinbar sachlichen Klassifikationen hinein und erweist diese als zeitbedingt. Foucaults Kritik geht jedoch weiter und stellt die Unterscheidung zwischen Wahnsinn und Vernunft als solche in Frage. Er relativiert sie zur bloß kulturell gesetzten 'Ausschließung'. In geradezu romantisierender Weise erscheint ihm das Wahnhafte als möglicher Ausdruck einer verschütteten Authentizität. Die ins Mittelalter projizierte größere Toleranz gegenüber Verrückten, deren Zustand mit mystischen Vorstellungen gerechtfertigt wurde, kontrastiert er mit der modernen 'Klinifizierung' des Wahnsinns, durch die dieser überhaupt erst zur Krankheit gemacht worden sei. Nicht die Krankheit, ihre Behandlung bringe das Leiden daran hervor.

Gegen den 'Logozentrismus'

Auf einer wissenschaftshistorischen Ebene vertieft Foucault diesen Ansatz in der  'Ordnung der Dinge' (1966). Im Zentrum des Werks steht der Übergang von einem mittelalterlich geprägten Weltverständnis auf moderne Formen wissenschaftlicher Klassifikation im Umbruch von der Renaissance zur Neuzeit. Vormoderne Denkformen, bei denen etwa völlig inkommensurable Gegenstände aufgrund äußerer Ähnlichkeiten in dieselbe Gattung eingeordnet werden, wurden verdrängt. An ihre Stelle tritt ein Denken, welches mithilfe experimenteller Ansätze die wirklichen 'inneren' Bestimmungen der Gattungen erforscht. Wo etwa die Genetik Mensch und Schwein trotz ihrer äußerlichen Unterschiede als verwandte Wesen identifiziert, liegt wissenschaftlicher Fortschritt vor. Foucault leugnet diesen, indem er die mittelalterliche und die moderne Sichtweise als gleich wahre oder unwahre kulturelle Setzungen versteht. An verschiedenen Stellen deutet er an, die Abgrenzung des modernen Denkens von früheren Epochen sei der willkürlichen Unterscheidung von Wahnsinn und Vernunft vergleichbar. Und komplementär dazu erweise sich auch die Idee, menschliche Subjekte wären zu Autonomie und Erkenntnis fähig, als herrschaftsdienliches Konstrukt des humanwissenschaftlichen Diskurses.

Totaler Relativismus

Diese Relativierung moderner Wissenschaft bricht mit allen Ansätzen der Aufklärung, moderaten und radikaleren, so beschränkt sie in mancher Hinsicht sein mochten. Ihnen und ebenso aller später aufgekommenen Ideologiekritik bei Marx und anderen liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Menschen, Wesen mit Bewusstsein, zu vernünftiger Einsicht fähig sind. Ideologien können sie daher als Legitimationsformen irrationaler Herrschaft durchschauen und potentiell in kollektiver Aktion zur praktischen Befreiung von dem als Übel Erkannten schreiten. Der postmoderne Bruch mit dieser Ansicht stützt sich ausgerechnet auf die Theorietradition reaktionärer Ideologen wie Heidegger und insbesondere Nietzsche. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich das positive Menschenbild, das vom Bürgertum bei seinem Kampf um die Macht proklamiert worden war, gewandelt. Vor dem Hintergrund sich vertiefender Klassenkämpfe und verschärfter imperialistischer Konkurrenz kursierten verstärkt Ideologien natürlicher Ungleichheit; auch die Idee einer allen Menschen angeborenen Vernunft kam aus der Mode.

Nietzsche – Säulenheiliger der Postmoderne

Einer der scharfsinnigsten Vertreter dieses Anti-Denkens ist Friedrich Nietzsche. Er knüpft an lebensphilosophische Gedanken an und wendet diese sozialdarwinistisch: Nicht in Erkenntnis und allgemeinem Fortschritt, in der Durchsetzung des eigenen Lebenswillens, notfalls auch kraftvoll gegen andere, liegt die Bestimmung des Menschen. Konsequenterweise erklärt Nietzsche in gegenaufklärerischem Furor die Idee einer vernünftigen Subjektivität selbst zur Illusion. In dem Schlüsseltext 'Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne' wird dafür der Grundstein gelegt. Der Philosoph Wiebrecht Ries charakterisiert Nietzsches Denkfigur folgendermaßen: „Der Dezentrierung des Ich korrespondiert  die Herausstellung eines subjektlosen 'Grundes', der dem Bewusstsein unzugänglich bleibt und zu dem die auf Repräsentation bezogene Intention der Sprache nicht hindurchdringt.“ Sprache ist Nietzsche nicht ein Medium des Denkens, um die Wirklichkeit zu erfassen, vielmehr hält sich der Mensch fälschlich für ein 'Ich', weil ihm das durch Syntax und Grammatik seiner Sprache nahegelegt werde. Hinter die Regeln der Sprache kommt der Mensch nicht zurück, umgekehrt ist das Bild des Einzelnen von sich als einsichtsfähigem Subjekt etwas bloß sprachlich Konstruiertes: Dieser Einfall wird später auch zu einem der Gründungsgedanken postmoderner Philosophie in Frankreich, die ihn ausgerechnet in kritischer Absicht übernimmt. Damit verfällt auch sie seinem logischen Selbstwiderspruch: Wäre das Subjekt so hilflos im Regelwerk der Sprache eingekerkert, wie hätten dann ein Nietzsche, Derrida, Foucault dies durchschauen können? Und wie kann ein Ich, das es gar nicht gibt, einer Illusion erliegen?

Die Verdinglichung des Diskurses

Das vermeintliche Eingeschlossensein des Einzelnen in den Diskurs, in den er kulturell hineingeboren wurde, will Foucault einerseits aufbrechen, indem er die Genese des Diskurses erforscht. Dergleichen scheint der Ideologiekritik von Marx, Adorno oder anderen durchaus verwandt, weswegen Foucault auch in so manchem Kompendium mit diesen gleichgesetzt wird. Aber die gedankliche Abschaffung des Subjekts macht hier den Unterschied ums Ganze: Wo kein potentiell autonomes Individuum mehr existiert - gilt es doch nur als  Chimäre im diskursiven Labyrinth - kann es sich, zu Ende gedacht, auch nicht mehr emanzipieren. Wem sollten die kritischen Beobachtungen Foucaults denn überhaupt noch zur Befreiung verhelfen – und zu welcher? Und, siehe oben, wie hätte Foucault jemals zu seinem Durchbruch hinter die Diskursregeln gelangen können?

Die Verselbständigung der Macht

Innerhalb von Foucaults Diskursanalyse verkehrt sich das menschliche Subjekt zum Produkt sprachlicher Setzungen. Umgekehrt wird der Diskurs zu einem eigenen Subjekt. Die Diskurse flottieren frei über den Köpfen der Menschen wie die platonischen Ideen, die ja auch ohne denkendes Subjekt auskommen. Die Probleme einer solchen verdinglichenden Sichtweise hat Foucault durchaus gespürt, jedoch nie überzeugend aufgelöst. Auf die Kritik, sein Werk sei letztendlich ein Rückfall hinter Marx, nämlich zu einer idealistischen Ideen- und Kulturgeschichte, reagiert er mit ironischer Zustimmung. Zugleich treibt ihn die Thematik zu einer werkimmanent bekannten Wende: Die Macht tritt auf die Bühne und wird zur, dem Diskurs gleich oder sogar übergeordneten Kategorie. Damit sollte eine Art von Erdung der sprachfixierten Diskursanalyse einhergehen. Bedauerlicherweise entlehnt Foucault seinen Machtbegriff wiederum bei Nietzsche: Macht dient nicht Interessen, dann wäre sie ja ein Mittel von menschlichen Subjekten. Sie schwebt ebenso über den Individuen, wie es die Diskurse taten. Die Macht, sagt Foucault, „funktioniert und wird ausgeübt über eine netzförmige Organisation. (…) Und die Individuen...sind ihre Verbindungselemente.“ Auch die Macht ist eine gegenüber menschlichen Subjekten verselbständigte Kraft.

Kulturalismus

Schon im ersten Teil wurde erwähnt, dass Foucault irgendwann auch den Unterschied zwischen Falsch und Richtig zur willkürlichen westlichen Diskursregel erklärt hat. Wenn alle Formen der Repression letztendlich mit dem Denken überhaupt und jeglicher Form von Macht verschwistert sind, kann Befreiung auch nur in einem Jenseits dieser westlichen Vernunft liegen, einem Ort, der notwendigerweise diffus bleiben muss, denn ihn zu bestimmen hieße ja, neue Kategorien und Ausschlüsse zu fixieren. Foucault äußert sich daher nur vage zur Möglichkeit einer anderen Gesellschaft. „Es ist möglich, dass der grobe Umriss einer künftigen Gesellschaft sich auf neuere Erfahrungen mit Drogen, Sex, Kommunen, anderen Bewusstseinsschichten und anderen Formen von Individualität stützt“, sagt er 1971. Wo das Ich nicht als Möglichkeit zur autonomen Reflexion gesehen wird, sondern nur als internalisierte Form der Kontrolle – also Machtausübung – ist Entgrenzung angesagt. Und sofern die Verwerfungen des Kapitalismus nur als diskursiver Ausfluss der europäischen Moderne gelten müssen, findet sich in der Projektionsfläche vormoderner Zeiten und Kulturen vielleicht Erlösung: So ähnlich dachten etliche enttäuschte Linke aus Foucaults Generation und begaben sich auf den Pfad der Esoterik. Manche bedurften dafür indessen nicht des komplizierten Theoriegebäudes, das er sich erbaut hatte.