Dienstleistungs- oder Bildungsgewerkschaft?
Das Jahr 1998 war in der GEW bundesweit durch eine intensive Zukunftsdiskussion geprägt. Der Vorsitzende Dieter Wunder war 1997 zurückgetreten und seine Nachfolgerin Eva-Maria Stange suchte nach Wegen, die Fähigkeit der GEW zu Tarifauseinandersetzungen zu erhöhen. Zur gleichen Zeit begannen Verhandlungen zwischen den Einzelgewerkschaften des Dienstleistungsbereichs (ÖTV, HBV, IG Medien, DPG und der – nicht zum DGB gehörenden – DAG) über die Vereinigung zu einer großen Dienstleistungsgewerkschaft. Der geschäftsführende Vorstand der GEW beteiligte sich an den Gesprächen. Eine Mehrheit der Landesvorsitzenden machte jedoch zur Bedingung, dass in diesem Prozess die bildungspolitische und finanzielle Autonomie des Bildungsbereichs erhalten bleiben müsse. Diese Bedingung wurde von Beginn an vom Landesvorstand Bremen unterstützt, während einige Landesvorsitzende die Entscheidung offen hielten. Als sich nach der Unterzeichnung einer Plattform im Mai 1998 herausstellte, dass für die neue Großgewerkschaft eine starke Zentralisierung der Kompetenzen geplant war, stieg in den Landesvorständen die Zahl der Kritiker und im Herbst 1998 zog sich die GEW-Vorsitzende auf Beschluss des Hauptvorstandes aus dem Vorbereitungsgremium zurück. Ein endgültiger Beschluss über die Streitfrage einer Beteiligung sollte auf einem a.o. Bundesgewerkschaftstag gefällt werden, der im Mai 1999 stattfand. Noch immer gab es in der GEW – darunter auch in Bremen – Befürworter eines Anschlusses, insbesondere in den Hochschulen und der Kinder- und Jugendhilfe. In diesen Arbeitsbereichen waren viele Kolleg*innen in der ÖTV organisiert und es bestand die Hoffnung, durch eine Vereinigung an Stärke zu gewinnen. Demgegenüber bestand im Schulbereich überwiegend die Einschätzung, dass durch die Eingliederung in eine Dienstleistungsgewerkschaft das spezifische Profil der GEW als einer Gewerkschaft verloren ginge, die materielle Interessenvertretung, berufsspezifische inhaltliche Arbeit und bildungspolitische Ziele vereinigt. Diese Position setzte sich schließlich auf dem Bundesgewerkschaftstag durch.
Seitdem gibt es im DGB die Dienstleistungsgewerkschaft verdi und die kleinere Bildungsgewerkschaft GEW. In den Bereichen Kinder- und Jugendhilfe, Hochschule und Weiterbildung werben beide um Mitglieder und kooperieren meist in den Auseinandersetzungen mit den Arbeitgebern. Obwohl es nicht gelungen ist, alle Bildungsbereiche von der Kita bis zur Universität in einer Branchengewerkschaft zu vereinen, so hat sich die Struktur der Mitgliedschaft doch seit der Wende von 1989 stark verändert. Organisierte die GEW vorher in den meisten westdeutschen Ländern fast ausschließlich verbeamtete Lehrkräfte, so sind aus allen Bildungsbereichen der ehemaligen DDR viele Angestellte hinzu gekommen. Und durch die Aufgabenerweiterung der Schulen in den „alten“ Ländern sind viele angestellte Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen und Assistenzkräfte Mitglied der GEW geworden. So sieht sich die GEW vor die Aufgabe gestellt, unter Beibehaltung ihrer bildungs- und beamtenpolitischen Kompetenz ihre tarifpolitische Kraft weiter zu entwickeln.
Die neuen Bedingungen
Seit dem Grundsatzbeschluss von 1999 haben sich die Bedingungen gewerkschaftlichen Handelns im Bildungsbereich vielfach verändert:
● Alle Bundesregierungen haben den Abbau des Sozialstaats mit Steuergeschenken an die Vermögenden und Privatisierungen fortgesetzt. Der Bildungsbereich ist chronisch unterfinanziert. Bremen leidet als hoch verschuldeter kleiner Stadtstaat besonders darunter. Die Lehrerversorgung pro Schüler*in, die hier Anfang der 90er Jahre noch bundesweit an der Spitze stand, liegt heute weit hinter den anderen Stadtstaaten und dem Bundesdurchschnitt zurück.
● Die 2004 eingeleitete „Agenda 2010“ hat die Langzeitarbeitslosigkeit nicht behoben und einen großen Billiglohn-Sektor geschaffen. Die sozialen Probleme bündeln sich in den Großstädten, darunter wiederum in Bremen besonders.
● Betriebswirtschaftliche Steuerungsmethoden sind in großem Umfang im Bildungsbereich durchgesetzt worden. Einen Grundstein hierzu hatte schon die Ampelkoalition mit der Etablierung der Schulkonkurrenz in der Sek. I gelegt. Unter dem SPD-Bildungssenator Willi Lemke (1999 bis 2007) wurden die Personalausgaben durch neue Maßnahmen gekürzt: Lehrkräfte wurden in der „Betreuungsschule“ durch ungelernte Kräfte ersetzt. Schwimmunterricht wurde statt durch Lehrkräfte durch Bademeister erteilt. Die aus den Schulen abgeordneten Praxislehrer*innen an der Universität wurden abgeschafft. Freie Träger übernahmen Betreuungsaufgaben. Schulvereine stellten Personal ein. Die Unternehmensberatungs-Firmen Kienbaum und Roland Berger wurden beauftragt, neue betriebswirtschaftliche Rationalisierungsmaßnahmen zu planen. Weitere Schulen wurden geschlossen und die Grundstücke später verkauft. Die Berufsschulen sollten 2001 aus dem Schulsystem herausgelöst und in Anstalten des öffentlichen Rechts umgewandelt werden. Erst nach einem Einspruch des Rechnungshofes wurde dieses Projekt abgeblasen. Und schließlich wurde 2005 eine weitere Errungenschaft der 70er Jahre zurück genommen: Lehrkräfte für Grund-, Haupt- und Realschulen mit achtsemestrigem Studium wurden nicht mehr in der Besoldungsgruppe A13, sondern nach A12 eingestellt.
● Bestandteil der neuen Steuerungsmethoden ist auch die Beschneidung der Mitwirkungsrechte an den Schulen zu Gunsten des Entscheidungsrechts der Schulleitungen durch das novellierte Schulverwaltungsgesetz von 2005.
● Mit dem PISA-Programm ist es der OECD seit 2000 international gelungen, Standards für messbare, ökonomisch verwertbare Qualifikationen durchzusetzen. Durch Rankings werden Länder gezwungen, die Schulen auf die erwünschten Ergebnisse auszurichten („name and blame“). Tests und Prüfungen nehmen eine immer größere Rolle ein.
● Im PISA-Bundesländervergleich steht Bremen seit 2002 auf dem letzten Platz. Dies korrespondiert mit der Häufung sozialer Probleme. Im Bundestagswahlkampf 2002 wurde das Bremer Ergebnis von der CDU/CSU als Beleg für das Scheitern sozialdemokratischer Bildungsreformen interpretiert und der Senat übernahm diese Argumentation. Die Große Koalition einigte sich 2005 auf die Abschaffung der Orientierungsstufe. Das Gymnasium ab Klasse fünf wurde wieder eingeführt.
● Nach der Ablösung der großen Koalition durch eine rot/grüne Landesregierung gab es wiederum große Strukturveränderungen. 2009 wurde unter der Bildungssenatorin Jürgens-Pieper das Zwei-Säulen-System aus Gymnasium und Oberschule etabliert. Dabei wurden die Sekundarstufe-II-Zentren aufgelöst. Zusätzlich wurde mit der Inklusion in der Sekundarstufe I begonnen, die fast ausschließlich von der Oberschule realisiert werden muss. Zwar hatte die Koalition 2008 den permanenten Stellenabbau beendet, aber die neuen Projekte, insbesondere die Inklusion, erforderten weit mehr Personal, als zur Verfügung gestellt wurde. Wenig später trat Lehrkräfte-Mangel auf, zum Teil wegen des Wiederanstiegs der Schüler*innenzahl, zum Teil politisch selbst verschuldet – durch Schließung von Studiengängen an der Universität und Kürzung von Referendariatsplätzen.
Ergebnis dieser Veränderungen ist der ständig angewachsene Widerspruch zwischen den Versprechungen, die den Eltern über die Leistungen des Schulsystems gemacht werden, und den zur Verfügung gestellten Mitteln. Resultat davon ist gestiegener Arbeitsdruck für die Beschäftigten.