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Zeugnisse

Es gehört nun einmal zu den Erfordernissen unseres Bildungssystems, dass jährlich Zeugnisse ausgegeben werden, die dann das Leben mancher Familien tage- und wochenlang überschatten.

Diese Familien dürfen sich meines Mitgefühls erfreuen; denn wenn ich auch heute in fröhlicher Gelassenheit aus der sicheren Entfernung eines schon etwas fortgeschrittenen Alters sprechen kann, so will ich doch gerne gestehen, dass ich meinen Eltern so manche Woche verdorben habe. Und dass mir von einer ausgleichenden Gerechtigkeit so manche Woche verdorben worden ist. Denn mein Sohn schlug in dieser Beziehung natürlich nach mir.

Aber nun will ich doch mal all jenen, die mit schlechten Zensuren nach Hause gekommen sind, und allen, die sich über diese Zensuren schrecklich aufregen, eine Geschichte erzählen, die ich Wilfried Meyer aus Bremerhaven verdanke.

Man muss dazu wissen, dass Wilfried Meyer ein Schulfreund von mir aus der damaligen Leher Oberrealschule für Jungen in Bremerhaven ist. Heute trägt die Schule den Namen Lessings.

Wilfried schrieb mir dieser Tage einen Brief, in dem er mich an einen Aufsatz erinnerte, den ich während meiner Schulzeit geschrieben habe. Es ist ein Aufatz über den Nebenschlussmotor, ein Physikaufsatz. Und Wilfried Meyer hat ihn Wort für Wort behalten.

Ich will den mal aufschreiben: „Der Nebenschlussmotor hat der Menschheit wichtige Dienste geleistet. Es ließe sich noch mehr darüber schreiben. Aber dazu reicht die Zeit nicht.“ Punkt.

Die andere Hälfte der Klasse, so teilte mir Wilfried Meyer in seinem Brief mit, habe sich über den Hauptschlussmotor äußern müssen, um ein Abschreiben zu verhinden. Und das habe mich dann wohl ein bisschen in Verlegenheit gebracht.

Es wird gewiss nicht verwundern, wenn ich berichte, dass diese schöpferische Glanzleistung einen schmerzlichen Niederschlag im nächsten Zeugnis fand.

Aber: Für alle jene Mitschüler, die sich damals mehr oder weniger guter Zensuren erfreuen durften, weil sie ja vernünftige Dinge über den Nebenschlussmotor niederzuschreiben gewusst hatten, ist der Nebenschlussmotor inzwischen – nach einigen Jahrzehnten – völlig bedeutungslos geworden. Ich wette, den meisten geht es heute wie damals mir: Keiner hat Ahnung vom Nebenschlussmotor.

Ich aber verdiene mit der damals von mir hervorgebrachten Eselei heute Geld, indem ich die Geschichte erzähle.

Merke: Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir.