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Privatisierung im Erziehungs- und Bildungswesen in Griechenland

Was sich in den letzten Monaten in Griechenland im Bereich Bildungswesen abspielt, könnte meines Erachtens durchaus „die Chronik eines angekündigten Todes“ genannt werden. Die Bildungsreform, die heute in Griechenland in sehr intensiver Form und im Eiltempo durchgesetzt wird, hätte eigentlich viele Jahre zuvor stattgefunden, wäre da nicht das Hindernis der griechischen Verfassung, und zwar des Artikels 16 derselben, das unter anderem besagt:

„Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei, wobei ihre Entwicklung und Förderung Staatspflicht ist.“ „Alle Griechen haben ein Recht auf kostenfreie Bildung in allen ihren Stufen, in staatlichen Bildungseinrichtungen.“ Und weiter: „Die Hochschulbildung wird ausschließlich von Einrichtungen angeboten die juristische Personen öffentlichen Rechtes mit voller Selbstverwaltung sind.“ Ferner: „Die Gründung von Hochschulen seitens Privatpersonen ist verboten.“
Trotz dieser gesetzlichen Vorkehrungen der Verfassung ist in den letzten 3 Jahren, und zwar seitdem sich die Finanzkrise in Griechenland auf das Intensivste entfaltet hat, der öffentliche und unentgeltliche Charakter der universitären Bildung und überhaupt der Bildung in Griechenland abgebaut worden. …

Der Bologna-Prozess

Die Umgestaltung der europäischen Hochschullandschaft wird von den meisten Kollegen, die sich mit dem Thema beschäftigen, spätestens mit dem Bologna-Abkommen vom Jahre 1999 ausgemacht – als alle europäische Bildungsminister gemeinsam die vermeintliche Harmonisierung des Bildungswesens in Zielsetzungen und entsprechenden Maßnahmen beschlossen. ... „Hemmungslos schleudert eine Anti-Bildungs-Bildungsreform ihre Plastikwörter – Exzellenz, Kompetenz, Effizienz, Modularisierung und so weiter und so fort – hervor, und eine teils eingeschüchterte, teils sympathisierende Rektoren- und Professorenschaft setzt sie in die Wirklichkeit um“ beschrieb Ulrich Beck die Situation an den deutschen Hochschulen in der Frankfurter Rundschau vom Juni 2010 und kündigte sogleich an: „Was zwei Weltkriege nicht geschafft haben, könnte Bologna erreichen: die deutsche Universität zu zerstören“….
Die Umsetzung der oben genannten Präferenzen ist in Griechenland nun genau zu beobachten. Was Griechenland von den anderen Ländern jedoch unterscheidet, ist die Schnelligkeit mit der die Reformen herbeigeführt werden – innerhalb von weniger als einem Jahr werden von oben herab und ohne Rücksicht auf die Meinung der akademischen Gemeinde, ohne jegliche Beachtung der Folgen auf die Erziehung aber auch auf die Forschung und nicht zuletzt ohne jegliche Rücksichtnahme auf die sozial schwachen Bevölkerungsschichten Maßnahmen verheerenden Ausmaßes getroffen. Für die Schnelligkeit und Entschiedenheit der aufeinanderfolgenden Gesetzesverabschiedungen, Regulierungen, Bestimmungen usw., für die völlige Ignorierung des Grundgesetzes berufen sich alle zuständigen Politiker auf das Dringende der finanziellen Lage Griechenlands in der Krise. Die Notwendigkeit Gelder zu ersparen, die „Krise“, dient ihnen als Alibi, um in der Bildungspolitik Maßnahmen zu ergreifen, die sonst unmöglich wären und vor allem monate- wenn nicht jahrelange Diskussionen und Debatten gebraucht hätten. … Ich glaube nicht, dass die Krise der Auslöser der Katastrophe im griechischen Bildungswesen ist, sondern dass die Krise einfach als Vorwand für das schnelle und möglichst widerstandslose Herbeiführen längst getroffener und in anderen Ländern seit Jahren implementierter Entscheidungen dient. …

Die Auswirkungen

Mit dem Anfang der Krise und dem Beginn der Gehalts- und Pensionskürzungen in Griechenland gab es massenhafte Pensionierungsanträge und Rücktritte im gesamten öffentlichen Dienst in Griechenland und somit auch im Bildungsbereich. Zählt man den nun seit zwei Jahren anhaltenden Einstellungsstopp hinzu, kann man verstehen, warum für das Jahr 2012 allein im Grundschulbereich 10.000 Lücken entstanden. Die Antwort auf diesen Riesenbedarf an qualifizierten Lehrern für die Grundschulen war für 2012 lediglich die Genehmigung von 40 Einstellungen! In diesem Winter hat die Kombination von Ölpreiserhöhung und Kürzungen zu Schließungen von Schulen in Westmakedonien geführt, an Tagen an denen die Temperaturen stark fielen – bei Temperaturen von -15 Grad fehlte das Heizöl.
Im Hochschulbereich wiederum galt für mehr als zwei Jahre quasi ein Einstellungsstopp, zumal jede Einstellung fünf Rücktritten, Pensionierungen oder gar Entlassungen entsprechen sollte. Dieser Prozentsatz wurde Anfang dieses Jahres auf 1 zu 10 verdoppelt. Im Moment warten über 850 gewählte Hochschul-Lehrkräfte schon im dritten Jahr auf ihre Einstellung – 2012 wurde niemand eingestellt. Für 2013 und 2014 soll keine einzige Einstellung im administrativen Bereich stattfinden. Der höchste Lohn eines Universitätsprofessors beträgt heutzutage 1750 Euro netto, während der neu antretende promovierte Lektor nicht mehr als 900 Euro monatlich verdient. Das vielleicht krasseste Beispiel stammt vom 12. Dezember vorigen Jahres, als, nachdem die Rektoren sich weigerten, Namen von zu entlassenden Administrativfachkräften dem Ministerium abzugeben, der Minister willkürlich etliche Namen von der zentral gehandelten Kompensationsdatei über das Wochenende löschen ließ! Hierzu sei vermerkt, dass solche Akte der Administration illegal sind –und den betroffenen Beamten zynischerweise empfohlen wurde, vor Gericht zu ziehen, - die Mindestwartezeit für einen Urteilsspruch in einem solchen Fall beträgt im besten Fall ohnehin um die 2.5 Jahre – eine Zeitperiode, in der das gewünschte makroökonomische Bild schon erreicht sein wird.
Natürlich werden alle Kürzungen und Maßnahmen der Troika zugeschoben. Zugleich und aus Anlass der daraus resultierenden Verarmung jedoch wurden im Rahmen des Hochschulprojektes „Athina“, ganze 154 Hochschulinstitute von einem Tag auf den anderen komplett geschlossen und/oder mit anderen Instituten vereinigt, viele in Kilometer weit entfernten Orten gelegen. Was geschieht nun in Wirklichkeit, oder, eher, wozu führt das Ganze? Parallel zu den hunderten von ähnlichen Maßnahmen im gesamten Bildungswesen sieht das mittelfristige Memorandum für die Jahre 2013-2016 die komplette Liberalisierung der privaten Bildungsindustrie vor, unbeachtet der Verfassungsklauseln! Privatunternehmern ohne jegliche Qualifizierung im Erziehungsbereich steht es nun frei, private Grundschulen, Gymnasien, Hochschulen zu eröffnen. Parallel dazu werden die Rektoren von Administrativkonsilien ersetzt, die aufgefordert werden, mehr als 50% der früheren Mittel für das Überleben der Institutionen selber aufbringen zu lassen. Die komplette Privatisierung des gesamten Bildungswesens steht nun ins Haus.

Persönliches:

Letztes Jahr musste meine ältere Tochter in den Kindergarten. Ich wählte einen Privatkindergarten in der Nähe unserer Wohnung und erfuhr, dass wir monatlich 600 Euro zu zahlen hatten. Für beide Kinder würde das fast meinen gesamten Monatslohn als Universitätsprofessorin bedeuten (ich bekomme monatlich netto 1435,- Euro). So wandte ich mich an den öffentlichen Kindergarten. Ich erfuhr, dass dort das Geld für Material und kulturelle Veranstaltungen nicht ausreichte. So hatte die Elternschaft beschlossen, eigenes Geld für diese Kosten auszugeben – 300 Euro jährlich je Kind. Akzeptabel aber kennzeichnend für ein System das in sich zusammensinkt… Wer in Deutschland würde so eine Vereinbarung eingehen? Nächstes Jahr muss ich mich für die Einschulung entscheiden. Privat- oder öffentlich? Statistische Daten lassen mir nicht viel Hoffnung: Während die Gelder für öffentliche Bildung radikal herabgesetzt werden, drängen sich immer mehr Schüler in immer weniger Schulen mit immer weniger Lehrern. Die 30–Schüler-pro-Klasse Grenze (die schon gewaltig hoch ist) ist in den meisten Schulen längst überschritten. Kunst und Sportaktivitäten werden entweder radikal oder ganz abgebaut. Mit einer einzigen Ministerialentscheidung ließ man vor zwei Monaten 40 Musikschulen schließen, auch die Grundlagen für Sonderpädagogik werden abgeschafft. Hinzu kommt das gewaltige und nicht zu unterschätzende Eindringen der Neonazis in die Schulen: laut Klagen von Elternorganisationen sind die meisten Schülerkonzilien in den Schulen des westlichen Athens von Chrysi-Avgi-Anhängern regelrecht beherrscht und der Trend geht aufwärts. Wohin wird das alles führen? Meines Erachtens kommt es bald zu folgendem Bild: Schülermäßig überbevölkerte und lehrermäßig unterbesetzte öffentliche Schulen gegenüber sehr teuren Privatinstitutionen, die eine Elite der wenigen Ausgebildeten den Massen der wenig Gebildeten entgegensetzen. Eine radikale Umwandlung des sozialen Gefüges mit Ausweitung der sozialen Unterschiede. Auf der einen Seite Schüler, die von den sich vermehrenden Wohltätigkeits-Küchen zum Essen abhängig sind gegenüber Schülern, deren Eltern trotz Krise in der Lage sind, 1000 bis 1500 Euro je Kind monatlich hinzulegen, damit sie den Qualitätssturz des öffentlichen Bildungssystems umgehen können. …

Die Frage ist nun: WAS TUN?

Hier möchte ich anmerken, dass wir Griechen uns endlich im Klaren darüber sein müssen, dass die Zerstörung des öffentlichen Charakters der Bildung, dass die de facto und inzwischen auch de jure „Kommerzialisierung des Wissens“ kein alleiniges griechisches Krisenphänomen ist. Es ist ein paneuropäisches Phänomen und als solches soll es auch verstanden und bekämpft werden. Auf jeder Bildungsstufe haben sich inzwischen Akademikerinitiativen auf gesamteuropäischer Ebene organisiert, die Bildung vor allem als soziales und nicht als kommerzielles Gut ansehen wollen, die sie als MENSCHENRECHT betrachten, und sich bestimmte Maßnahmen erkämpfen wollen, damit diese katastrophale Entwicklung endlich gestoppt wird. Gemeinsame mit anderen Europäern müssen wir in Griechenland, dem Land mit den geringsten Ausgaben für Bildung und den höchsten für Waffen, eine demokratische, humanistische, übergreifende und öffentliche Bildung jetzt erkämpfen! Das Bologna-Abkommen und die damit zusammenhängenden Regulierungen und Gesetze sollen schleunigst revidiert und auf gesamteuropäischer Ebene annulliert werden. Gesundheit und Bildung sollen als Grundrechte verstanden und von den Staaten zur Verfügung gestellt werden.
Athen/Berlin, den 28.02.2013