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Hilfreiche Entlastung oder zusätzliche Bürokratie?

Für mich stellt sich die Frage: Warum laden die Grünen im Jahre 2013 zu einer Veranstaltung ein, die sich mit dem Nutzen von „Eigenständigkeit“ für Schulen im allgemeinbildenden Bereich befasst? Dazu ist es naheliegend, sich die Situation im Schulbereich anzusehen. Nur daraus lässt sich eine Antwort finden.

Zur Situation

Mit der Novellierung des Schulgesetzes von 2009 sind alle Schulen im Bundesland Bremen verpflichtet, sich zu „inklusiven Schulen“ zu entwickeln. Das bedeutet:
- die Grundschule ist am weitesten fortgeschritten, was Erfahrungen, Strukturentscheidungen und Unterrichtsentwicklung angeht, sieht sich jedoch durch höchst unterschiedliche Lernausgangslagen herausgefordert;

  • in der Sekundarstufe 1 erfolgt aufwachsend die Einführung der Oberschulen bei gleichzeitigem Vorhalten einer Gymnasialquote;
  • die Sekundarstufe IIa erreichen Schüler/innen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten mit der Maßgabe, bundesweiten Standards gerecht werden zu müssen.


Die Gesamtentwicklung ist eingerahmt durch eine prägnante Armutssituation, durch einen gebremsten Ausbau von Ganztagsschulen, die eigentlich zur Inklusion gehören, durch notwendigerweise hohe Fortbildungsanstrengungen des Personals (siehe Altersverteilung), durch Umstellung der Lehrer/innenausbildung, die erst in den Folgejahren wirksam wird, und durch eine weitere besondere Anforderung. Einerseits muss individualisierter Unterricht entwickelt werden und andererseits, parallel dazu, besteht die Herausforderung, eine wertschätzende Schulkultur in einer deutlich vielfältigeren SchülerInnen- und MitarbeiterInnenschaft zu etablieren.
Die Entwicklung ist erwartungsgemäß nicht ohne Widersprüche (Diskussion um Fritz-Gansberg-Schule) und steht unter Erfolgsdruck (Bundesländervergleiche).
Die daraus resultierende, eigentliche Frage lautet:

Kann die Idee der Eigenverantwortung den Prozess der Einführung eines inklusiven Schulsystems unterstützen?

(Insofern ist der als Frage formulierte Untertitel der Veranstaltung zu allgemein).
Da in der Einladung zu dieser Veranstaltung ausdrücklich Bezug genommen wird auf die Erfahrungen berufsbildender Schulen, ist es sinnvoll, die dort bearbeiteten Handlungsfelder, also die Unterrichts-, die Organisations-, die Personal- und die Qualitätsentwicklung für die Einschätzung dieser Fragestellung zu Rate zu ziehen.
Ein Blick auf diese Kriterien zeigt, dass es im Grunde genommen und zugespitzt um eine Sache geht, nämlich die Personalfrage, da in allen drei anderen Handlungsfeldern mit Blick auf die Schulen ein hohes Maß an Eigenständigkeit existiert:

  • nimmt man allein die Organisationsformen der Grundschularbeit (Jahrgangsklassen, JüL 1+2 und 3+4 oder 1-4), so bekommt man eine Ahnung von der realen Bandbreite der Unterrichtsentwicklung;
  • sieht man die intensive Arbeit von Steuergruppen und die zunehmende Einrichtung erfolgreicher Teamstrukturen, ist deutlich, dass die „Organisation“ Schule in Bewegung ist;
  • und betrachtet man die Vielfalt der Möglichkeiten und damit verbundenen Chance zur Eigenständigkeit, die im sog. „Stadionmodell“ niedergelegt sind, so gibt es auch hinsichtlich der Qualitätsentwicklung wenige Hürden, sich selbständig auf den Weg zu machen. Insofern läuft es auf die Personalentwicklung zu


Die nochmals zugespitzte Frage lautet demnach:

Kann die Idee der Eigenverantwortung im Handlungsfeld „Personalentwicklung“ bei der Einführung eines inklusiven Schulsystems hilfreich sein?

Um diese Frage beantworten zu können, muss man die Personalstruktur bei den Lehrkräften des Landes zur Kenntnis nehmen: Bei der Altersverteilung spricht man von einem „Altersberg“ und einem „Jugendhuckel“, durch die Föderalismusreform und die „Liberalisierung“ der Wechselmöglichkeiten zwischen den Bundesländern stehen wir in einer spürbaren Konkurrenzsituation, aus den Anforderungen der Inklusion wird der Bedarf an Fachlichkeit nicht geringer (MINT-Fächer) und die benötigte Anzahl von KollegInnen mit Spezialqualifikationen (So-Päd) höher – und es werden MitarbeiterInnen gebraucht, die durch ihre Haltung einen inklusiven Prozess erst ermöglichen.
Wenn „Eigenverantwortung“ die Lösung sein soll, dann müssten folgende Problembereiche positiv beantwortet werden:
Die Schulen können durch mehr Eigenständigkeit:

  • in der Konkurrenz um Lehrkräfte zu den anderen Bundesländern besser bestehen – trotz Festlegung der Besoldungstabellen durch die Bürgerschaft;
  • die notwendige Zahl neuer Lehrkräfte einwerben – obwohl sie keinen Einfluss auf Ausbildungskapazitäten an der Uni oder im Referendariat haben;
  • sich die benötigten Qualifikationen (und Haltungen) für ihr Schulprogramm aussuchen – obgleich das Angebot mit der Nachfrage nicht mithält;
    Kommt man zurück auf die Ausgangsüberlegung, warum die Grünen im Jahre 2013 eine derartige Veranstaltung durchführen, so gibt es je nach Verbundenheit zur Partei unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten:
  • man vergewissert sich der unterschiedlichen Situation im allgemein- und berufsbildenden Bereich, nimmt insbesondere die Einführungsmodalitäten der „Eigenständigkeit“ in der Sek IIb zur Kenntnis (10-Jahres-Prozess, ESF-Mittel) und kommt hinsichtlich der Übertragungsmöglichkeiten unter dem Aspekt der „Personalentwicklung“ zu einem negativen Ergebnis; oder
  • man folgt der ideologischen Figur neoliberaler Denkmuster und drückt aus grundlegenden Überzeugungen dieses Modell durch; oder
  • man sieht die aktuelle Finanzsituation in Kontrast zu den Anforderungen eines selbst verabschiedeten Schulentwicklungsprozesses, merkt, dass dies nicht übereingeht und lenkt durch ein „neues Thema“ ab bzw. klammert sich an jeden Strohhalm oder verschiebt die Verantwortung aus Verzweifelung an die Einzelschule.

Alles in allem:

Viel mehr als „mehr Eigenständigkeit“ benötigen wir ein Personalentwicklungskonzept, das die Steuerung des Gesamtsystems absichert. So wie „Inklusion“ nicht in die Entscheidungsfreiheit der Einzelschule gestellt wird, so müssen auch die personellen Bedingungen zur Umsetzung dieses Anspruches für die Gesamtheit des Schulsystems geregelt werden. Es geht nicht darum, dass die Schnellsten im begrenzten Pool ausgebildeter PädagogInnen sich den Vorteil sichern, sondern dass alle Schulen eine abgesicherte und verlässliche Personalsituation vorfinden.