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Flüchtlingskinder in der Grundschule

„Auf der Welt gibt’s ganz viel Platz. Da können viele Menschen leben. Ich verstehe nicht, warum es Krieg gibt. Ich will nicht, dass so viele Kinder und Menschen sterben.“ (Songül, 10 Jahre)

Es gibt viele Gründe, die Menschen zur Flucht oder zum Verlassen ihrer Heimat veranlassen: Krieg oder Verfolgung aus politischen, religiösen oder ethnischen Gründen, wirtschaftliche Not, soziale Gründe (z.B. Familienzusammenführung) oder andere individuelle Gründe.

Eine Flucht beginnt oft ohne große Vorbereitungen: Verwandte, Freunde, Häuser, Tiere und Sachen werden zurück gelassen, Fluchtweg und Ziel sind ungewiss, Fluchtwege oft dramatisch, und nicht alle erreichen lebend ihr Ziel.
Mit diesen Problemen und Nöten stehen die Menschen, in Deutschland angekommen, einer Situation gegenüber, die zwar zunächst (meist) Sicherheit vor Tod und Verfolgung bietet, aber gleichzeitig sind sie oft aufs Neue mit einer beunruhigenden Situation konfrontiert: Komplizierte, langwierige und oft aussichtslose Asylverfahren, Angst vor Abschiebung, die Sorge um zurückgelassene Familienangehörige, Unterbringung in beengten Wohnunterkünften oder überfüllten Wohnungen, keine Arbeitsmöglichkeiten und vieles mehr bestimmen ihren Alltag.
Auch konfrontiert mit einer oft völlig fremden Umgebung, wie einem anderen Klima oder fremden Lebensmitteln, einer Sprache, die sie weder verstehen noch sprechen, mit einer Schrift, die sie nicht lesen können, häufig mit Vereinzelung statt einem gemeinschaftlichem Leben, versuchen sie im Ankunftsland Fuß zu fassen.

„Ich wünsche mir, dass es in Syrien so normal ist wie in Deutschland und dass da keine verbrannten Häuser sind.“ (Milad, 8 Jahre)
Mit solchen Erfahrungen kommen Kinder in die Grundschule, zunächst in einen Vorkurs, der ihnen einen ersten stabilen Rahmen bietet. In Gruppen bis zu 10 Kindern haben sie die Möglichkeit, in 3 bis 6 Monaten mit wöchentlich 20 Stunden Grundkenntnisse in der deutschen Sprache zu lernen und in der für sie fremden Umgebung anzukommen.
Die Kurse sollen ein Ort sein, an dem sich die Kinder im Gleichgewicht mit ihrer Geschichte und den sie umgebenden Bedingungen entwickeln und angstfrei wachsen können.

„In Ghana gibt es Twi und Fanti und noch viele andere Sprachen.“ (Rose, 10 Jahre)
Heterogenität der Kinder im Alter, der Kulturen, Religionen und Sprachen sowie unterschiedliche Bildungs- und Migrationserfahrungen bestimmen den Alltag in den Kursen. Zum Beispiel können in einem Kurs mit zehn Kindern 15 verschiedene Sprachen versammelt sein, da viele Kinder zwei Familiensprachen beherrschen. Sprechen Kinder dieselbe Familiensprache, so bildet diese oft einen Rahmen sprachlicher und kultureller Vertrautheit.
Allen Kindern gemeinsam ist, dass alle eine Migrationsgeschichte haben, sie erst kurz in Bremen sind und Deutsch lernen sollen.

„Ich möchte gut Deutsch lernen, weil ich damit später auch in Kurdistan arbeiten kann.“ (Renas, 9 Jahre)
„Ich wünsche mir, dass meine Hühner in Madagaskar nicht tot gehen.“ (Luca, 7 Jahre)
Das Kurskonzept beinhaltet einen prozess- und handlungsorientierten Unterricht, in dem die Kinder anhand verschiedener Grundthemen, die ihren Alltag und ihre Erfahrungen betreffen, die neue Sprache und ihre neue Umgebung kennenlernen. Neben dem Spracherwerb sind wesentliche Inhalte:

  • Mit der neuen Umgebung vertraut zu werden,
  • Integration in den hiesigen Schulalltag,
  • neue Regeln und Umgangsformen lernen,
  • lernen, in zwei Kulturen zu leben,
  • Lebensfreude erfahren

Um diese Inhalte umzusetzen und die Ressourcen der Kinder zu nutzen haben sich neben einem „klassischen“ Sprachunterricht u.a. folgende Methoden bewährt:

  • Kreative Arbeit, wie freies Malen, Modellieren, Musizieren,
  • Körperausdruck, wie Bewegungsspiele, Tanzen, Entspannungsübungen,
  • Spielen und Entdeckungen in der Natur und an anderen außerschulischen Orten,
  • Pflege der Herkunftskultur, wie Kochen, Erzählen, Einbeziehung von Liedern und Büchern in den Sprachen der Kinder,
  • feste Rituale im Tagesverlauf,
  • freies Spiel und ungesteuerte Rollenspiele

Diese Methoden sind auch gut dazu geeignet, den Kindern Raum für ihre eigene Geschichte zu geben und Erlebnisse der Vergangenheit ansatzweise bewältigen zu können. Die Verknüpfung von Spracherwerb und den anderen oben genannten Inhalten sind integraler Bestandteil des gesamten Kurskonzepts.

Dazu ein Beispiel:
Florence kam aus Togo. Sie war anfangs sehr durcheinander und unruhig und lief die ganze Zeit durch die Klasse. Eines Tages begann sie, Perlen, kleine Stecker und andere Gegenstände einzusammeln, suchte sich eine Schale, legte alles hinein, füllte die Schale mit Wasser auf und begann zu „kochen“. Am Boden deckte sie den Tisch und lud uns alle „zum Essen“ ein. Sie erzählte uns, dass sie Reis und Fleisch gekocht habe und dass ihre Mutter auch so koche. An dem Tag ging sie zufrieden nach Hause.
Florence war für alle schwierig, sie ärgerte andere Kinder sehr und war nicht bereit, sich an Gruppenaktivitäten zu beteiligen. Jedoch immer wieder kam sie auf das Kochen zurück. Sie „kochte“ jeden Tag.
Ich griff diese Aktivität auf, und wir vereinbarten, dass jedes Kind ein Gericht auf unserem Herd kochen könne. Über einen längeren Zeitraum wurden die Gerichte von den Kindern, die auch die Zutaten mitbrachten, gekocht und gemeinsam gegessen. Florence und alle anderen Kinder waren begeistert.
Auf sprachlicher Ebene lernten die Kinder die Lebensmittel, die mit dem Kochen verbundenen Aktivitäten und ihre Gefühle dazu (schmeckt lecker, macht Spaß, u.s.w.) zu benennen, miteinander über das Essen und Essgewohnheiten zu Hause zu kommunizieren.
Durch diese Kochrituale entstand in der Gruppe eine große gegenseitige Wertschätzung, besonders auch Florence gegenüber und jedes Kind konnte etwas über sich mitteilen.
Für Florence war das ein wichtiger Schritt, um sich nach Wochen besser zu fühlen und in den Lernprozess einzusteigen.

„Ich wünsche mir, dass wir einen deutschen Pass kriegen.“(Raschad, 10 Jahre)
„Ich möchte, dass wir eine Wohnung kriegen.“(Esra, 8Jahre)
„Alle meine Freunde sind in Polen. Ich möchte dahin zurück.“(Kacper, 8 Jahre)
Trotz der überwiegend guten Erfahrungen, die wir mit oben genanntem Ansatz gemacht haben, ist ein Sprachkurs mit der Bewältigung der beschriebenen Probleme oft überfrachtet. Auf als besonders schwierig erlebte Kinder kann nicht immer adäquat reagiert werden. Sie können die neue Lebenssituation nur sehr schwer annehmen und verharren in einer Situation der Instabilität. In der Schule äußert sich dies durch Traurigkeit, innere Abwesenheit und Verweigerung bis hin zu Aggressivität.

Kinder, die sich auf den Deutschkurs und das Erlernen der Sprache problemlos konzentrieren können, wechseln relativ schnell vom Vorkurs in die Regelklasse.
Wir entscheiden nach dem Prinzip: So lange wie nötig im Kurs, so schnell wie möglich in die Klasse.

„Ich wünsche mir, dass mein Opa Recheb und meine Tante Emine nach Deutschland kommen“. (Oguz, 7 Jahre)
„Ich will nicht, dass meine Sprache nachgeäfft wird und ich will nicht beleidigt werden, weil ich schwarz bin“. (Hajara, 8 Jahre)
Bei (Flüchtlings)kindern, die uns über das „normale“ Maß hinaus fordern, stellen wir in Betracht, dass sie möglicherweise traumatisiert sind. Dabei spielen nicht nur ihre Migrations- oder Fluchterfahrungen eine Rolle, sondern sie erleben ihre Eltern jetzt oft in einer Situation der Unsicherheit und Sprachlosigkeit, mit der neuen Lebensituation zurecht zu kommen. Manchmal erleben sie auch Ausgrenzung und Ablehnung.

Deswegen ist über den Vorkurs hinaus weitere Unterstützung notwendig.

  • Es braucht eine Bereitschaft der Schulen, die besondere Situation von Flüchtlingskindern anzuerkennen und zu berücksichtigen.
  • Es braucht eine direkte Anbindung von Schule an TraumatherapeutInnen, TherapeutInnen, DolmetscherInnen und weiteren Fachstellen, die professionell zu Folgen von Migration beraten, um direkt und unbürokratisch an den Schulen auf solche Situationen reagieren zu können.
  • Es braucht die Möglichkeit, unbürokratisch eine Zweitkraft anfordern zu können, um sich mit einzelnen Kindern zu beschäftigen.

„Ich wünsche mir, dass ich die Schule bis zur 13. Klasse schaffe und nicht sitzen bleibe“. (Roula, 10 Jahre)
Das sichere Beherrschen der deutschen Sprache ist ein Prozess, der nicht mit dem Besuch eines Vorkurses beendet ist, sondern mehrere Jahre umfasst. Die Kinder brauchen deshalb nach Beendigung des Vorkurses einen durchgängigen Sprachunterricht an den Schulen.

 

Susanne Becker ist Vorkursleiterin und bei der Stadtteil-Schule e.V. beschäftigt.

 

Zum Weiterlesen

  • EeneMeeneKiste, Interkulturelles Kinderbuchprojekt
    c/o Leseland, Vor dem Steintor 131, 28203 Bremen, kontakt [at] eene-meene-kiste.de
  • Ineke Mok & Peter Reinsch: KiesKleurig: a colourful choice. Handbook for international teaching materials. Utrecht 1999. http://www.parel.nl/CCO.htm
  • Klaus-Henning Rosen (Hrsg.): Flucht: Kinder- Die Schwächsten unter den Flüchtlingen. Jahrbuch der Deutschen Stiftung für UNO-Flüchtlingshilfe 2002/2003. Berlin und Bad Honnef.
  • Flüchtlingsrat Niedersachsen: AusgeLAGERt - Zur Unterbringung von Flüchtlingen in Deutschland. März 2011. www.proasyl.de/ fileadmin/ proasyl/ fm_redakteure/ Broschueren_pdf/ AusgeLAGERt.pdf
  • Ausländerbeauftragte des Landes Bremen (Hrsg.): Kinderwünsche. Bremen 1999.
  • Wicke, Rainer-E.: Grenzüberschreitungen. Der Einsatz von Musik, Fotos und Kunstbildern im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht in Schule und Fortbildung. München 2000.