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Eine biblische Option: Das Erlassjahr

Gott verlangt vom Volk Israel ein Erlassjahr – alle sieben Jahre. Warum? Die Bibel nennt zwei Gründe: Es wird immer Arme bei euch geben, und: Eigentlich sollte es keine Armen in eurem Land geben. Konnten diese beiden widersprüchlichen Aussagen damals gleichzeitig bestehen? Können sie bei uns heute gleichzeitig gelten?

Deutschland 2013: Armut in einem reichen Land
Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht lässt sich nicht übertünchen: Trotz der wirtschaftlichen Erholung bleibt der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung konstant. Alle zehn Jahre wird von einer „neuen“ Armut geredet: Mal ist es die Armut der Frauen und der Älteren, mal die der Arbeitslosen, mal die Armut derer, die trotz Arbeit arm sind, mal die Armut der Abgehängten, die der Kinder und schließlich wieder die Armut der älteren Menschen, die erst durch eine Zuschussrente menschwürdig leben. Die Ursachen bleiben jedoch immer dieselben: Arbeitslosigkeit, brüchige Partnerbeziehungen, alleinerziehende Frauen, Haushalte mit Kindern oder Ausländer. Illegale fallen durch das Netz jeder Statistik.
Armut in einem reichen Land – was liegt näher, als sie zu verdrängen? Es ist ja nicht die Armut wie in Bangladesh. Über Armut lässt sich nicht wertfrei reden, also sind die Definitionen beliebig. Die europaweite Definition macht Armut zu einem Massenphänomen, weit entfernt von den Hungernden, Obdachlosen und denen, die vor den Eingängen der Kaufhäuser schlafen. Armut ist häufig freiwillig gewählt. Sie steigert das Innovationspotential der Gesellschaft, Einmal arm, ist nicht immer arm. Armut in Deutschland ist bekämpfte Armut. So liest man in der Presse. Wohlhabende mit blinden Augen und tauben Ohren wissen jedoch nichts von Armut.
Armut ist gemachte Armut, politisch mit verursacht. Politiker haben den Sozialstaat zu einer Art Wettbewerbsstaat umgerüstet: Fit für die Wissensgesellschaft sollte die Bevölkerung, Konkurrenzfähig sollte der Finanzplatz Deutschland werden. So wurden die Unternehmen und die Wohlhabenden steuerlich entlastet, die privaten Vermögen aufgetürmt, die öffentlichen Haushalte verkleinert, die Vermögensteuer abgeschafft. Solidarische Sicherungssysteme wurden ausgehöhlt, die private Vorsorge propagiert, die Arbeitsverhältnisse entsichert.
Die biblische Option eines Erlassjahres, eines Sabbatjahres für Deutschland. Kann das sein? Kann es die Armut in unserem Land vertreiben, die gesellschaftliche Spaltung überwinden, alle am wachsenden Wohlstand beteiligen? Ja, es könnte drei gesellschaftliche Stellgrößen verändern – das Land ruhen lassen, öffentliche Schulden tilgen und Privatvermögen abschmelzen, allen Menschen eine Zeit zum Atmen bieten.

1. Das Land soll nach sieben Jahren ruhen

Die biblische Option lautet: Die Eigentümer des Landes sollen im siebten Jahr weder säen noch ernten. Die von Gott gut und schön geschaffene Erde soll ein Jahr brach liegen bleiben. Was wächst, soll für die Armen, Waisen, Witwen und Fremden sowie für die Tiere verfügbar sein. Armut und gesellschaftliche Spaltung werden durch kapitalistische Machtverhältnisse verursacht und durch nachhaltiges Wirtschaften bekämpft. Denn inzwischen haben wir gelernt, dass ein Teil der wirtschaftlichen Dynamik des Kapitalismus mit einer rasanten Zerstörung der Natur einhergeht, die weithin und über Jahre hinweg zum Nulltarif genutzt wurde. Dabei gehören die natürlichen Ressourcen, also die Güter der Erde allen Menschen. Wer sie sich aneignet und in privates Eigentum überführt, muss die Allgemeinheit für die private Nutzung entschädigen. Entschädigen die Konzerne der Industrieländer, wenn sie in fremden Ländern Plantagen anlegen, um Biosprit zu gewinnen, jene Bauern, die das Land nutzen, um das eigene Überleben zu sichern? Spielen sie ihre Macht aus, um ungleiche Verträge durchzusetzen? Auch der ökologische Fußabdruck, den wir Europäer seit Mitte der 1980er Jahre hinterlassen, ist Diebstahl an den Lebensperspektiven der Länder in der Südhalbkugel der Erde.

2. Die Gläubiger/Schuldner-Beziehungen sollen auf das ursprüngliche Niveau zurück

Die biblische Option lautet: Du sollst dein Herz nicht verschließen und deine Hand öffnen gegenüber deinem Bruder und deiner Schwester, die bedrängt und arm sind in deiner Stadt und in deinem Land. Wer seinen Nächsten etwas geliehen hat, soll es ihnen erlassen, wenn im siebten Jahr ein Erlassjahr ausgerufen ist. Die Wohlstandsdynamik einer kapitalistischen Wirtschaft beruht darauf, dass dem Bankensystem die Macht zugebilligt wird, grenzenlos aus dem Nichts Geld und Kredite zu schaffen. Aber wer entscheidet darüber, in welche Richtung sie fließen, wozu, für wen und in welchem Ausmaß und unter welchen Bedingungen sie bereitgestellt werden?
Seit Jahren hat sich die Finanzsphäre immer mehr von der Realwirtschaft abgelöst. Großbanken, Versicherungskonzerne, Investmentfonds, automatisierte Handelssysteme sind zu einer Eigenwelt, zum Selbstzweck geworden. Sie dienen kaum noch dazu, reale Investitionen zu finanzieren, welche die Lebenschancen der breiten Bevölkerung und der einfachen Leute erhöhen. Sie haben die Geldvermögen der Kapitaleigner aufgebläht, zur Blase werden lassen und mit ihrem Platzen eine beispiellose Finanzkrise verursacht. Dannhaben sie den Staat zu Hilfe gerufen, ihn in Geiselhaft genommen und genötigt, zu kooperieren und sie zu retten. Die Finanzexperten selbst haben dieses Casinospiel noch befeuert, indem sie das Märchen
erzählten, die Zentralbanken und Aufsichtsbehörden könnten auf die so genannte Informationseffizienz der Kapitalmärkte vertrauen, die sich selbst steuern. Denn die Finanzkennziffern, Wertpapierkurse und die ganze Finanzsphäre würden authentische Signale über zukünftige Chancen und Risiken der Anlageentscheidungen aussenden. Eine öffentliche Aufsicht sei überflüssig und schade dem freien Spiel der Märkte.
Derzeit erleben wir weltweit einen wahren Krieg zwischen den Staaten und der privaten Kapitalmacht. Demokratisch legitimierte Regierungen spitzen wie Kaninchen die Ohren, wie denn die Stimme der Finanzmärkte auf politische Entscheidungen reagiert. Was braucht Europa? Eine starke Zentralbank, die sich gegen das Risiko einer Inflation des Güterpreisniveaus wehrt, die regionale Schieflagen zwischen den Überschussländern im Norden und den Defizitländern ausgleicht und die das Beschäftigungswachstum nicht ausbremst. Europa braucht eine gegenseitige Solidarität, indem die starken und mächtigen Länder Beiträge gemäß ihrer Leistungsfähigkeit entrichten, die Schwächeren und Armen jedoch einen Anspruch auf Hilfe haben gemäß ihrer Notlage. Ein Europa, das nach den monetären Denkmustern der Deutschen gestrickt ist, wäre kein demokratisches und soziales Europa. Öffentliche Schulden, welche die Lebenschancen einfacher Leute vernichten, müssen getilgt werden – gleichzeitig mit einem Schnitt der Privatvermögen wohlhabender und extrem reicher Haushalte.

3. Alle Menschen sollen Zeit zum Atmen haben

Die biblische Option lautet: Im siebten Jahr, in dem die Erde zur Ruhe kommt, in dem die menschlichen Beziehungen zur ursprünglichen Gleichheit zurückkehren, sollen die Menschen ruhen. Das Sabbatjahr ist dem Sabbat nachgebildet, da Gott am siebten Tag der Schöpfung ruhte und so das gute Werk vollendete, das er vollbracht hatte. Das siebte Jahr und der siebte Tag sind von Gott gesegnet und durch seine Ruhe geheiligt. Deshalb gilt das Gebot: Sechs Tage und sechs Jahre sollst Du arbeiten, am siebten Tag und im siebten Jahr aber sollst du ruhen, du, deine Frau, deine Kinder, deine Knechte und Mägde, deine Tiere.
„Ich kann nicht mehr“. So klagt ein Kind auf der Titelseite des Magazins: Der Spiegel über den Schulstress, der krank macht, in den Lehrer und Lehrerinnen, Vater und Mutter Kinder und Jugendliche hineintreiben. „Die gleiche Menge soll in der Hälfte der Zeit bewältigt werden“. So beschreibt ein Facharbeiter das wachsende Arbeitstempo, das die Finanzmärkte über börsennotierte Unternehmen in die Betriebe weiterleiten. Die durchschnittliche Arbeitszeit von Vollerwerbstätigen beträgt derzeit nicht 35, sondern 42 Stunden pro Woche. Schule, Unternehmen und der Staat sind zu Orten rasender Beschleunigung, Hetze und Atemlosigkeit geworden. Und die steigenden Belastungen der Erwerbsarbeit, dessen Grenzen fließend werden, bleiben in der Privatsphäre abgelagert. Das Zeitmaß, das Männer und Frauen der Erwerbsarbeit bzw. der Kinderbetreuung widmen, widerspricht ihren Wünschen und erzeugt Stress. So jagen sie krankhaft von Termin zu Termin, können Zusagen nicht einhalten, stolpern hinter sich her. Wir sind reich an Gütern, aber arm an Zeit. Und zusätzlich konkurrieren die Städte um mehr verkaufsoffene Sonntage.
Was beansprucht die Wirtschaft? Qualifizierte Frauen, die ohne Unterbrechung verfügbar sind. Einen Staat, der den Frauen die Doppelbelastung abnimmt und eine öffentliche Kinderbetreuung organisiert. Männer, die weiterhin unbezahlte Mehrarbeit leisten. Und was propagieren Manager und Politiker? Wachstum, mehr Erwerbsarbeit, mehr Güter und mehr Konsum!
Was aber brauchen die Menschen? Nicht mehr Klamotten, nicht mehr Autos, nicht mehr Industriewaren mit eingebautem Verschleiß, nicht mehr Raubbau am gemeinsamen Leben. Sondern ein Erlassjahr mit weniger Erwerbsarbeit, weniger Wachstum, das Umwelt und Gesundheit zerstört. Ein Sabbatjahr für uns selbst, für unsere Kinder und füreinander. Ein Erlassjahr der Befreiung zum Atmen