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Die seltsame Sucht nach 1., 2., 3.

Wie schwierig es ist, die Leistung von Schülern gerecht mit Noten zu bewerten, und wie viel subjektive Sicht in diesem Akt steckt, weiß wohl jede Lehrerin und jeder Lehrer mit einem Minimum an Selbstkritik. Dass die Schülerinnen inzwischen „zurückschlagen“ und auf Internet-Portalen ihrerseits ihren Lehrern und Schulen Noten geben, verwundert kaum. Was bedeutet es aber, wenn auf diese Weise Schulen und Lehrer in Rangfolgen gebracht werden? Was bedeutet es, wenn Bayern in einem von der Kultusministerkonferenz vorgelegten Ländervergleich der gemessenen Leistungen repräsentativ ausgewählter Viertklässler auf dem ersten und Bremen auf dem letzten Platz rangiert? Ist das eine Willkür, das andere Wissenschaft?

Unter dem Stichwort »Battle« (Schlacht) bietet das Bewertungsportal spickmich.de allerlei lustige Rangfolgen an: Coolster Style, Schönste Augen, Coolste Frisur, Coolste Karre, Niedlichstes Haustier, Süßestes Pärchen. Sie kommen dadurch zu Stande, dass ein paar Schülerinnen und Schüler, die zufällig mitmachen, von jeweils zwei Fotos das anklicken, das sie »cooler« finden. Was die Medien Tag für Tag an Rankings vorlegen, dürfte auf ähnliche Weise zustande gekommen sein: Sie sehen dort die 20 angeblich torsichersten Fußballspieler, die 100 sexysten Mädels (nackt), die 100 schicksten Damen (bekleidet), die 100 sexysten Männer (bekleidet), die 50 potentesten Manager (bekleidet) und die 100 glitzerndsten Stars der Welt. Gelegentlich taucht die gleiche Glitzerdame sowohl unter den 10 best- als auch unter den 10 am schlechtesten gekleideten Frauen auf.

Was also soll der Zirkus? Offenbar befriedigen diese Listen eine tief sitzende Sehnsucht vieler Menschen nach Ordnung, Einordnung, Hierarchie, die ich als Demokrat nur schwer nachvollziehen kann. Am schönsten ist die Welt doch da, wo sie einfach nur schön ist!

Die Krönung von Oprah Winfrey

Nach der berühmten Forbes-Liste der »100 einflussreichsten Prominenten (the Celebrity 100)« war 2010 die amerikanische Fernsehmoderatorin Oprah Winfrey die einflussreichste Prominente der Welt. Es folgten die Amerikanerinnen Beyoncé (Platz 2), Lady Gaga (4), Tiger Woods (5), Britney Spears (6), Sandra Bullock (8), Johnny Depp (9) und Madonna (10). Dazwischen der Kanadier James Cameron (3) und die irische Rockgruppe U2 (7). Es sei kurz daran erinnert, dass die Weltbevölkerung zu rund 20 % aus Chinesen, zu 17 % aus Indern und nur zu 4,5 % aus US-Amerikanern besteht.

Das amerikanische Wirtschaftsmagazin »Forbes« macht sich die Erstellung seiner Liste nicht leicht. Die Liste orientiert sich an 10-20 messbaren Kategorien, darunter dem Jahreseinkommen, der Anzahl der Auftritte in Fernsehen und Radio, der Titelbilder von Illustrierten, der Nennungen im Internet, der Zahl von Facebook-Fans. Da die »Forbes«-Rechercheure aber nicht alle Fernsehsender der Welt auswerten, sondern wohl nur die englischsprachigen, hat die »Bollywood«-Diva Madhuri Dixit trotz ihrer zahllosen Auftritte vor zig Millionen Zuschauern im indischen Fernsehen keine Chance, von »Forbes« mitgezählt zu werden. Und da das amerikanische Showbusiness die höchsten Gagen der Welt zahlt, lässt auch das Kriterium Einkommen fast nur Amerikaner nach oben kommen.

Woran Ländervergleiche kranken

Ähnlich problematisch verhält es sich mit internationalen Ländervergleichen. Das deutsche Wirtschaftsministerium setzt uns zum Beispiel eine absolute Milliardenzahl vor und verkündet – zumindest bis zur Finanzkrise – stolz: Deutschland schon wieder Exportweltmeister! Man verschweigt uns, dass Deutschland mit seinen gut 80 Millionen Einwohnern im internationalen Maßstab ein überdurchschnittlich großes Land ist. In einem Vergleich der Exportleistungen pro Einwohner rutscht der »Weltmeister« auf Platz 17 im Jahre 2008 ab – was immer noch ein sehr guter Platz ist, bei 168 untersuchten Ländern.

Journalisten und andere glauben offenbar gern, dass man den beliebtesten Professor, die kinderfreund­lichste Stadt usw. tatsächlich ermitteln kann, indem man den Wert einfach an einer Art Thermometer abliest. Wenn die UNO eine Rangliste der Lebensqualität in 182 Ländern veröffentlicht, dann »wissen« wir plötzlich, dass man in Norwegen am besten lebt, knapp vor Australien. Deutschland belegt knapp hinter Großbritannien Platz 22. Doch was bitte ist Lebensqualität, und wie kann man die in fast allen Ländern der Erde in gleicher Weise messen? Das weiß zwar niemand, aber da das Ranking von der UNO herausgegeben wird, muss es stimmen. Solche Veröffentlichungen erzeugen »Fakten«, auf die sich danach viele berufen. Die eigentlichen Indikatorwerte, auf denen diese Rangfolgen beruhen, sind schon problematisch genug. Doch oft liegen sie so dicht beisammen wie die Olympia-Ergebnisse beim 400-m-Lauf, so dass zufallsbedingte Schwankungen oder Messfehler darüber entscheiden, ob ein Land vor oder hinter einem anderen liegt. In der Diskussion geht es später – genau wie im Sport – dann gar nicht mehr um diese Werte, sondern nur noch um den Platz eines Landes in der Rangfolge. Diese Zahl aber spiegelt keine Realität wider, sondern ist ein Artefakt: Sie ist erst durch das Mess- und Vergleichsverfahren entstanden.

Die Willkür der Bewerter

Wenn so unscharfe und komplexe Größen wie die Lebensqualität der gesamten Bevölkerung eines Staates oder gar die »Zukunftsfähigkeit« einer Stadt in Schulnoten verwandelt und eine Rangliste gepresst werden, ist im Hintergrund ein Vorgang im Spiel, der vielen Beobachtern nicht bewusst ist: Die Macher der jeweiligen Studie haben willkürlich aus einer unüberschaubaren Fülle von denkbaren Indikatoren einige wenige ausgewählt und diese dann ebenso willkürlich gewichtet. Oft werden der Einfachheit halber alle Indikatoren oder Kriterien gleich stark gewichtet – ungeachtet riesiger regionaler oder sozialer Unterschiede in der Bedeutung einzelner Kriterien. Angenommen, die Versorgung mit Golfplätzen geht in den Lebensqualitäts-Index ein – was bedeutet das für Menschen, die nie die Chance haben werden, Golf zu spielen? Angenommen, die Qualität des Meerwassers geht in die Zukunftsfähigkeits-Index ein – was bedeutet das für Berchtesgaden?

Gefährlich ist die Möglichkeit der Macher, das Ergebnis durch Auswahl und Verteilung der Indikatoren gezielt zu beeinflussen. Wenn z. B. die Bertelsmann-Stiftung in ihrem 2011 vorgelegten Deutschen Lernatlas als Kriterium für »soziales Lernen« die Aktivität in der Freiwilligen Feuerwehr herausgreift, dann verschiebt diese Auswahl das Ergebnis zugunsten ländlicher Regionen.

Kultusminister in der Bundesliga

Gegen die Rangliste der Bundesländer in den PISA- und TIMMS-Studien wurde schon oft und zurecht eingewandt, dass dort Fliegengewichte mit Schwergewichten in den Ring steigen müssen. Da sich Migrantenkinder in industriell geprägten Großstädten konzentrieren und Millionärskinder an den Ufern bayerischer Seen, sind die länderbezogenen Stichproben in solchen Vergleichen arg vorsortiert. Daher ist es sogar eher verwunderlich (und ein gutes Zeugnis für das Bremer Schulwesen), dass die in der jüngsten Viertklässler-Olympiade gemessenen Leistungsunterschiede so gering sind:

Beim Lesen liegen Bayern (515 Punkte), Sachsen (513), Sachsen-Anhalt (511) und Thüringen (510) dicht beieinander in der Spitzengruppe. Die üblichen »Schlusslichter« sind Hamburg (478), Berlin (467) und Bremen (463) – aber auch Bremen liegt nur um rund 10 Prozent (52 Punkte) unterhalb des Spitzenreiters. Die journalistische Öffentlichkeit starrt aber, genau wie bei der Bundesliga, nur auf den Platz in der Tabelle. Dabei verschwinden die Leistungen der »Schlusslichter« aus dem Blickfeld. Es bleibt nur hängen, dass sie die letzten waren, also – scheinbar! – versagt haben.

Der Autor:

Jens Jürgen Korff ist Historiker und Politologe und hat gemeinsam mit dem Mathematiker Gerd Bosbach 2011 das Buch veröffentlicht: »Lügen mit Zahlen. Wie wir mit Statistiken manipuliert werden.«