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Bildung, Armut, Inklusion

Ein Zusammenhang, der gern vergessen wird

Um die Lebenssituation sozial benachteiligter Schüler/innen zu kennzeichnen, wird häufig der Begriff „Bildungsarmut“ verwendet. Tatsächlich schlägt sich Armut nicht bloß als chronisches Minus auf dem Bankkonto oder als gähnende Leere im Portemonnaie nieder, sondern führt auch zu vielfältigen Benachteiligungen, gerade im Hinblick auf die Schulbildung der Betroffenen. Es wäre jedoch ein Irrtum zu meinen, Armut erschöpfe sich in Bildungsdefiziten oder basiere primär darauf. Vielmehr ist das Verhältnis von Armut und Schulbildung erheblich komplizierter, als es zunächst scheint, und der Terminus „Bildungsarmut“ missverständlich, wenn nicht irreführend. Durch eine Blickverengung auf (gescheiterte) Bildungsbiografien sozial Benachteiligter wird nämlich von den eigentlichen Wurzeln der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich abgelenkt sowie einer Pädagogisierung, Subjektivierung bzw. Psychologisierung dieses Kardinalproblems der Gesellschaftsentwicklung Vorschub geleistet, dessen erfolgreiche Lösung nur mittels einer Umverteilung der materiellen Ressourcen von oben nach unten erfolgen kann.

Wenn man so tut, als führten ausschließlich oder hauptsächlich mangelnde Bildungsanstrengungen zu materieller Armut, fällt ausgerechnet den Betroffenen im Sinne eines individuellen Versagens (der Eltern) die Verantwortung dafür zu, während ihre gesellschaftlich bedingten Handlungsrestriktionen und die politischen Strukturzusammenhänge aus dem Blick geraten. Bildungsbeteiligung für die einen und Bildungsbenachteiligung für die anderen Kinder ergeben sich aus der im Finanzmarktkapitalismus strukturell angelegten Tendenz zur sozialen Polarisierung, die wiederum eine Folge der Globalisierung bzw. der neoliberalen Modernisierung darstellt.

Sowenig ein ökonomistisch verkürzter Armutsbegriff das Phänomen in seiner ganzen Komplexität erfasst, sowenig Sinn macht ein kulturalistisch verkürzter Armutsbegriff. Ohne die Berücksichtigung der Schlüsselrolle materieller Güter für die Existenz, das Ansehen und die Wertschätzung eines Menschen in unserer Gesellschaft kann das Problem nicht verstanden werden. Geradezu paradox erscheint, dass die überragende Bedeutung des Geldes sowie seiner halbwegs gleichmäßigen und gerechten Verteilung auf die einzelnen Bevölkerungsgruppen ausgerechnet zu einer Zeit immer häufiger angezweifelt wird, in der es aufgrund einer fortschreitenden Ökonomisierung, Privatisierung und Kommerzialisierung in fast allen Lebensbereichen ständig an Relevanz für die Versorgung und den Status von Individuen gewinnt.

Was unter günstigen Umständen fraglos zum individuellen beruflichen Aufstieg taugt, versagt als gesellschaftliches Patentrezept. Wenn alle Jugendlichen, nicht bloß jene mit Migrationshintergrund, mehr Bildungsmöglichkeiten bekämen, was sehr erstrebenswert wäre, würden sie um die wenigen Ausbildungs- bzw. Arbeitsplätze womöglich nur auf einem höheren geistigen Niveau, aber nicht mit größeren Chancen konkurrieren. Vielmehr bedarf es darüber hinaus neben einer Vielzahl anderer Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Infrastruktur der Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen. Schließlich kann die Pädagogik weder eine gerechte Steuerpolitik noch eine die Armut konsequent bekämpfende Sozialpolitik ersetzen.

Kinder aus sozial benachteiligten Familien gehören zu den größten Bildungsverlierern. Trotzdem ist es heuchlerisch und purer Zynismus, den Armen „Bildet euch! Bildet euch! Bildet euch!“ zu predigen, ihnen jedoch die dafür notwendigen materiellen Ressourcen vorzuenthalten. Liberalkonservative Politiker, die in Sonntagsreden eine bessere Bildung für alle versprechen, erhöhen im Alltag durch Förderung der Privatschulen, Beschneidung der Lernmittelfreiheit und (Wieder-)Einführung von Studiengebühren die Bildungsbarrieren für Kinder aus sozial benachteiligten Familien.

Falsche oder fehlende Schulabschlüsse sind höchstens Auslöser und Verstärker, aber nicht die Verursacher materieller Not. Da die „Bildungsferne“ armer Familien überwiegend eine Folge gravierender materieller Defizite ist, die teilweise über Generationen hinweg kumuliert wurden, lässt sich die Benachteiligung von Kindern nur verringern, wenn die Schulbildung als integraler Bestandteil einer fortschrittlichen Gesellschaftspolitik verstanden wird und eine strukturelle Benachteiligung deprivierter Kinder unterbleibt. Inklusion sollte nicht bloß als sonderpädagogisches, vielmehr auch als gesellschaftspolitisches Paradigma verstanden werden.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt ist sein Buch „Armut“ (Köln: PapyRossa Verlag 2017) erschienen und sein Buch „Kritik des Neoliberalismus“ (Springer VS 2016) neu aufgelegt worden.