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20 Quadratmeter Beton

Vor mehr als 200 Tagen wurden mehrere Mitarbeiter der “Cumhuriyet“ verhaftet. Im Gefängnis Istanbul-Silivri werden ihre Rechte aufs Schwerste verletzt.

Auf  der "Rangliste der Pressefreiheit 2017" ist die Türkei erneut stark abgerutscht, auf Rang 155 von untersuchten 180 Ländern. Deutschland liegt nach einer Analyse von „Reporter ohne Grenzen“ auf Rang 16, Nordkorea ist Letzter. Seit dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei sitzen dort mehr als 150 Journalisten im Gefängnis. Auch die Gerichtsreporterin Canan Coskun von der Oppositionszeitung Cumhuriyet soll für 23 Jahre in den Knast. Der Prozess steht bevor. Die Journalistin (geboren 1987) hatte über verbilligte Luxuswohnungen für Richter und Staatsanwälte berichtet. Mit dem Bericht habe Coskun die Justizvertreter beleidigt, heißt es in der Anklageschrift. Von den günstigen Preisen profitierten demnach unter anderem drei Richter, die die Einstellung von Korruptionsermittlungen gegen vier Ex-Minister der Regierung des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan anordneten. Canan Coskun berichtet aber weiter die aktuelle Situation in ihrem Heimatland.
Sie hat die Türkei verlassen und war im April auch in Bremen zu Gast. Sie gab der BLZ die Erlaubnis, einen ihrer Artikel zu veröffentlichen.

Unsere zehn Cumhuriyet-Kollegen, die sich in Untersuchungshaft befinden, wurden noch nicht verurteilt – bestraft werden sie aber bereits. Mit einer Reihe von Rechtsverletzungen wird nicht nur ihre Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt, auch ihr Recht auf Kommunikation mit der Außenwelt wird aufs Schwerste verletzt. Solange sie inhaftiert sind, fühlen auch wir uns nicht frei.

Ihnen wird untersagt, Briefe zu verschicken. Als Begründung für diese Einschränkungen werden die im Rahmen des Ausnahmezustands geltenden Notstandsdekrete angeführt. Dabei gibt es in diesen Dekreten keine offizielle Regulierungen, die diese Haftbedingungen rechtfertigen.

Stellen Sie sich vor, Sie dürfen nur zwei Stunden pro Woche Ihre Anwälte und Angehörigen sehen. Ziehen Sie eine Glaswand zwischen sich und ihnen hoch und denken Sie sich ein Telefon dazu. Eine Begegnung, bei der nach einer Stunde der Ton abgeschaltet wird und nur das Bild übrigbleibt.

Alle zwei Monate eine Umarmung

Alle 15 Tage dürfen Sie mit ihrer Familie telefonieren, allerdings wird die Gesprächszeit auf zehn Minuten beschränkt. Alle zwei Monate dürfen Sie Ihre Geliebten umarmen. Währenddessen werden Sie von einer Kamera aufgezeichnet, inklusive Tonaufnahme. Willkommen in Silivri!

Sinem Kara, die Ehefrau des Cumhuriyet-Autoren Hakan Kara, hat es nicht übers Herz gebracht, ihrer fünf Jahre alten Tochter zu erklären, dass ihr Vater im Gefängnis sitzt. Bis zum 100. Tag seiner Inhaftierung hat sie ihren Ehemann nur einmal ohne die trennende Glaswand sehen dürfen. Auch wenn sie sich längst daran gewöhnt hat, dass ihre wöchentlichen Gespräche hinter der Glaswand aufgezeichnet werden, sagt sie doch: “Es ist nicht gut, sich daran zu gewöhnen.“

Ihre kleine Tochter denkt derweil, dass ihr Vater auf Geschäftsreise im Ausland ist. “Sie kann alle fünfzehn Tage mit ihrem Vater telefonieren“, erzählt Sinem Kara. “An Tagen, an denen diese Gespräche stattfinden, geht sie nicht zur Schule. Damit sie ihren Vater nicht vergisst, lasse ich ihr Geschenke zukommen, als habe sie ihr Vater geschickt. Er sitzt weiterhin in Untersuchungshaft, weil es immer noch keine Anklageschrift gibt. Langsam findet die Kleine: ‚Es reicht jetzt. Er soll endlich zurückkommen.‘“

Ein Buch für drei Insassen

Nun stellen Sie sich Ihre Lieblingsfarbe vor. Zum Beispiel hellblau. In Silivri ist diese Farbe nicht erlaubt. Die Justizvollzugsbeamten geben die Farbpalette vor. Das Leben hier ist weiß, dunkelblau, algengrün und metallgrau. Das Grün im Pflanzentopf ist auch verboten. Überall ist Beton. Und überall bedeutet 20 Quadratmeter.

Bücher können zwischen diesen vier grauen Wänden ohne Frage die große Rettung sein. Doch als unsere Kollegen im November verhaftet wurden, gab es in Silivri so wenige Bücher, dass sich schon damals drei Insassen ein Buch teilen mussten. Die Haftanstalt, die den traurigen Ruf des “größten Gefängnisses von Europa“ genießt, war im Besitz von 1.750 Büchern.

Beschluss des Verfassungsgerichts

Vor genau einem Jahr hatte das Verfassungsgericht einen Beschluss unterzeichnet, der die Rechtsverletzungen während der Haft von Can Dündar und Erdem Gül bestätigte. Darin stand, dass Journalist*innen nicht allein aufgrund ihrer Berichterstattung inhaftiert werden könnten, und dass Dündars und Güls Persönlichkeitsrechte sowie ihr Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit verletzt wurden. Auch heute werden die in diesem Beschluss aufgezählten Prinzipien außer Acht gelassen.