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Schwerpunkt

„Junge Generation nicht wieder benachteiligen“

Corona: Keine paradiesischen Zustände am Alfred-Wegener-Institut

Foto: Susanne Carstensen

Ich möchte einen Aspekt beleuchten, der nicht so sehr in der öffentlichen Diskussion ist wie die Schulschließungen in der Coronakrise seit März 2020. Als Wissenschaftler arbeite ich am Alfred-Wegener-Institut (Helmholtz Zentrum für Polar- und Meeresforschung) in Bremerhaven und als Forschungsinstitut betreiben wir keine institutionelle Ausbildung wie Schulen und Universitäten. Dennoch kommen viele Studierende für mehrere Wochen bis wenige Jahre an unser Institut um Praktika, Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten zu machen. Anders als Schulen und Universitäten war das Alfred-Wegener-Institut während der gesamten Zeit der Pandemie nie komplett geschlossen, das heißt, es gab immer die Möglichkeit wichtige Dinge im Institut zu erledigen, nötige Experimente durchzuführen, Kulturen am Leben zu halten, etc., auch wenn mit großen Einschränkungen. Also, im Vergleich zu Schulen paradiesische Zustände? Ich würde sagen: eher nicht.

Lange ein Geisterinstitut

Was die Studentinnen und Studenten bei uns von Schüler:innen oder eingeschriebenen Studierenden unterscheidet, ist der Umstand, dass sie zu ihren Arbeiten speziell von ihrem Studienort nach Bremerhaven und das AWI gewechselt sind und in der Regel hier gar niemanden kennen, sich also in einem völlig fremden Umfeld bewegen, sowohl im wissenschaftlichen als auch im privaten Umfeld. Diese jungen Nachwuchswissenschaftler:innen konnten zwar technisch ihre Arbeiten im Großen und Ganzen durchführen mit Betreuung via Videobesprechungen, aber das Institut war wegen der der starken Begrenzung der Präsenz für mehrere Monate quasi ein Geisterinstitut, das heißt leere Gänge und Labore; für alles, was außerplanmäßig (schief)gelaufen ist, (und in der Forschung ist das eher die Regel als die Ausnahme) gab es vor Ort keinen Ansprechpartner, sondern es mussten wieder Besprechungen anberaumt werden, um an Lösungen zu arbeiten. Auch wenn das alles noch irgendwie machbar war, lag der größte Schaden meiner Beobachtung nach weniger im operativen Arbeiten, sondern in der Isolierung der jungen Menschen in einem fremden Umfeld.

Gestörte kreative Prozesse

Wissenschaft lebt vom kreativen Prozess, von Entwicklungen von Hypothesen und deren Überprüfung. Die wenigsten sind so genial, dass sie das alles aus sich heraus leisten, sondern das meiste resultiert aus Gesprächen, Interaktionen, Teamarbeit und großer Motivation. Alle diese Dinge waren während der Pandemie nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich. Und für viele Studenten, die das erste Mal Kontakt mit praktischer Wissenschaft hatten, waren diese Erfahrungen eher nüchtern. Das Problem ist zudem, dass sie „normales“ Arbeiten in der Wissenschaft gar nicht kennengelernt haben und einige sich aufgrund ihrer Erfahrungen von der Wissenschaft abgewandt haben. Und selbst die, die genügend Ausdauer gehabt haben, um doch noch weiterzumachen, haben zwei Jahre am Anfang ihrer wissenschaftlichen Laufbahn verloren, in denen es extrem wichtig ist, zu kommunizieren, Netzwerke zu bilden und über den eigenen Tellerrand hinauszublicken.

Früher zur „Normalität“

Spätestens nachdem Impfungen für alle zugänglich waren, hätte man meiner Meinung nach zur „Normalität“ zurückkehren sollen. Die Abwägung zwischen gesamtgesellschaftlicher Verantwortung und individueller Freiheit und wichtiger noch: Entwicklung, ist sicher nicht einfach und man kann nie allen gerecht werden, aber ich habe den Eindruck, dass einmal mehr in einer alternden Gesellschaft wie der unsrigen der Schutz der vulnerablen älteren Generation über die Interessen der jungen Generation gestellt wurden (siehe Klimakrise). Ich hoffe sehr, dass dieser Umstand ins öffentliche Bewusstsein gelangt und ähnliche Fehler in der Zukunft vermieden werden.