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Zeitlupe

„Es geht um echte Menschen!“

Cansin Köktürk berichtet über den „Unsozialstaat Deutschland“

Cansin Köktürk | Sozialarbeiterin, Autorin, Aktivistin, Foto:Privat

Ich bin Sozialarbeiterin aus Überzeugung, weil ich nicht wegschauen möchte, wenn es Menschen schlecht geht. Ich möchte nicht wegschauen, wenn Menschen ausgegrenzt werden. Es geht mir um Menschen und ihre Geschichten. Es geht mir um den Raum, den wir ihnen geben können. Es geht mir darum, ihnen zuzuhören und mit ihnen an den Ungerechtigkeiten in ihrem Leben zu arbeiten.

Nudeln und Toast

Es gibt zu wenig Sozialwohnungen. In Deutschland müssen viele Menschen auf der Straße leben. Es ist meine Pflicht als Sozialarbeiterin, davon zu berichten, dass ich in meiner Zeit als Heimleiterin einer Notunterkunft selbst für die Menschen zur Tafel gefahren bin, weil einige kein Geld für die Fahrkarte hatten, um es selbst zu tun. Ich muss erzählen, dass ich Suizide in der Unterkunft erlebt habe, weil Menschen keine Perspektiven und Ziele mehr hatten. Ich muss erzählen, dass ich in der ambulanten Jugendhilfe gesehen habe, wie Kinder in Armut aufwachsen, und dass ausschließlich Toast und Nudeln auf dem Speiseplan standen. Es gilt aufzuzeigen, dass die von wechselnden Regierungen beschlossenen sozialpolitischen Maßnahmen in der Realität nicht ausreichen. Wenn wir nur zusehen, verraten wir die Idee der Sozialen Arbeit. Die Soziale Arbeit ist eine Menschenrechtsprofession.

Ist-Zustand nur verwalten

Im Alltag ist es kaum möglich, als Sozialarbeiterin angemessen zu handeln, wenn man ein soziales Problem erkennt, weil Sozialarbeiter lohnabhängig von öffentlichen oder privaten Trägern arbeiten und deren Aufträge erfüllen müssen. Auf der einen Seite stehen die Bedürfnisse der hilfesuchenden Menschen und auf der anderen Seite die Interessen der Auftraggeber, die möglichst schnell die Klientinnen und Bedürftigen versorgen und wieder »erfolgreich« in die Gesellschaft integrieren wollen. Das ist die Aufgabe der Träger, auch wenn das in der Realität oft bedeutet, den Ist-Zustand bloß zu verwalten.

Probleme instrumentalisieren

Die Ursachen sozialer Probleme liegen nicht bei Einzelpersonen und ihrer Verfassung, sondern in den politischen und ökonomischen Verhältnissen. Aus Sicht des Profits ist Soziale Arbeit nötig, um die Arbeitsfähigkeit zu sichern. Hier geht es nicht um Geschichten, um Verständnis, um Sorgen – hier geht es um wirtschaftliche Interessen. Damit sich überhaupt etwas verändert, braucht es ein Bewusstsein für die wirklichen Probleme. Deswegen ist es wichtig, dass Menschen aus der Basis in der Politik dabei sind. Menschen, die verstehen, was die wirklichen Probleme sind, die Leute jeden Tag beschäftigen. Ich habe das Gefühl, dass Po­li­ti­ke­r*in­nen das noch nicht verstanden haben und die Probleme der Menschen dafür benutzen, gewählt zu werden, sie aber letztlich nicht wirklich ernst nehmen. Das einzige Argument sollte doch sein, dass es jedem Menschen gut gehen muss und dass jede Streitigkeit bei der Menschlichkeit enden sollte.

Wir brauchen Chancengleichheit für arbeitslose Menschen, eine Abschaffung der Sanktionen und die Erhöhung des Bürgergeldes. Das Neun-Euro-Ticket wäre ein super Schritt gewesen, ein tolles Zeichen, um zu zeigen, dass Teilhabe und Mobilität genauso wie Umweltschutz ernst genommen werden, und daraus ist nichts geworden.

Veranstaltungshinweis:

Lesung mit Cansin Köktürk

  • Mittwoch, 11. Oktober, 19:30 Uhr im Forum der Arbeitnehmerkammer | Barkhausenstraße 16, 27568 Bremerhaven
  • Donnerstag, 12. Oktober, 19:30 Uhr in der Kulturwerkstatt westend | Waller Heerstr. 294, 28219 Bremen

Eintritt: 8 Euro.

Buch von Cansin Köktürk: „Unsozialstaat Deutschland – Warum wir radikal humanistisch werden müssen“

ISBN: 978-3-86995-128-7. Das Buch ist eine unverzichtbare, streitbare Stimme im Kampf für soziale Gerechtigkeit.