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Bildung und Gesellschaft

Entzauberung des Entzauberers (II)

Nietzsche und der Antisemitismus

Damit Nietzsche im Laufe der Sechziger Jahre zum Säulenheiligen der postmodernen Linken gekürt werden konnte, musste er vom Verdacht des Antisemitismus exkulpiert werden. Seine Abwendung von Richard Wagner und dem politischen Judenhass der wilhelminischen Gesellschaft scheint dafür hinreichend entlastendes Material zu liefern. Obwohl später offiziell in den ideologischen Kanon der NS-Literatur eingemeindet, wurde er innerhalb der nazistischen Führungsränge wenig rezipiert. Dies alles ließ sich zur Verteidigung ins Feld führen. Indessen stehen auch hier die Dinge komplizierter: Man könnte Nietzsche als philosemitischen Antisemiten bezeichnen.

Zu den Quellen

Im ersten Teil dieses Textes (Bildungsmagazin 4/23) wurde erwähnt, dass die unterschiedlichsten politischen oder weltanschaulichen Lager sich aus den Widersprüchen seiner teils fragmentarischen Hinterlassenschaft jeweils ihren eigenen Nietzsche modellieren. Demgegenüber kaprizierten wir uns im letzten Heft in bieder-altmodischer, quasi philologischer Manier darauf, werkimmanent an einem ausgesuchten Text nach dem roten Faden oder zumindest: den roten Fäden zu suchen, die das gedankliche Labyrinth Nietzsches durchziehen. „Jenseits von Gut und Böse“ (1882) leistete uns die gewünschten Dienste, und dort finden sich auch erhellende Gedankengänge über sein Verhältnis zum Antisemitismus. Interessanterweise werden manche der in diesem Kontext fallenden Aussagen sehr häufig, manche fast nie zitiert. Zu den regelmäßig verwendeten zählt die folgende; sie beklagt in der Kultur des Deutschen Kaiserreiches „kleine Anfälle von Verdummung: zum Beispiel bei den Deutschen von heute bald die antifranzösische Dummheit, bald die antijüdische, bald die antipolnische, bald die christlich-romantische, bald die Wagnerianische, bald die teutonische, bald die preußische (man sehe sich doch diese armen Historiker, diese Sybel und Treitschke und ihre dick verbundenen Köpfe an –), und wie sie alle heißen mögen, diese kleinen Benebelungen des deutschen Geistes und Gewissens“.

Nietzsches klar formulierte Distanzierung von nationalistischen Ressentiments, namentlich auch vom antijüdischen, bezeugt augenscheinlich seine Redlichkeit in dieser Frage. Der explizit giftige Verweis auf den deutschnationalen Historiker Heinrich von Treitschke, den berüchtigten Verbreiter der Parole „Die Juden sind unser Unglück!“, tut sein Übriges. Solche Stellen werden in eher apologetisch gesinnten Publikationen wie dem „Nietzsche-Handbuch“ unter der Herausgeberschaft von Henning Ottmann ins Feld geführt, um des Meisters Position „wider den völkischen Antisemitismus“ als „klar“ erscheinen zu lassen. Ist sie das wirklich? Ziehen wir unsere Quelle zu Rate. Doch vorher noch einige einführende Bemerkungen zur Konjunktur antijüdischer Bestrebungen in der wilhelminischen Gesellschaft.

Antisemitismus im Kaiserreich

Schon während der napoleonischen Kriege hatte der aus dem Mittelalter überkommene religiöse Vorbehalt gegen das Judentum begonnen, sich gewissermaßen in nationale Farben zu hüllen. Im Zuge des erwachenden deutschen Nationalbewusstseins fahndeten völkisch Gesinnte nach den Prüfsteinen einer echt deutschen Identität. Johann Gottlieb Fichte, seines Zeichens idealistischer Philosoph und nationalistischer Vordenker, postulierte in den berühmten „Reden an die deutsche Nation“ (1808) die Unvereinbarkeit von jüdischer und deutscher Kultur, wobei er, je nach Interpretation, eine Hintertür für die Eindeutschung der Fremdartigen offenließ. Tradierte Stereotypen, wie das der Geldgier, dienten ihm als Indizien für kaum überbrückbare Fremdheit. Solcher nationalistisch transformierte Hass kam jedoch in der Praxis, obwohl in der Bewegung des Vormärz stets präsent, gegen die liberale Forderung nach bürgerlicher Gleichstellung nicht an, und so verfügten sukzessive immer mehr Staaten des Deutschen Bundes die „Judenemanzipation“, zuletzt das preußisch geprägte Kaiserreich in seiner Verfassung von 1871. Den religiös-konservativen Kräften war das ein Dorn im Auge, dennoch blieben sie gegenüber dem nationalliberalen Zeitgeist in der Minderheitenposition. Allerdings formiert sich auf Basis der Rassenlehren, die mittlerweile in Mode kamen, eine Biologisierung des Antijudaismus: Das Judentum wurde zur „Rasse“ stilisiert, mit kollektiven, unveränderlichen Eigenschaften, die letztlich auch durch Umerziehung nicht aufzuheben wären. Den zugehörigen Kampfbegriff schuf bekanntlich der Publizist Wilhelm Marr 1879. Seinen „Antisemitismus“ will er ausdrücklich als naturwissenschaftlichen Terminus verstanden wissen.

Wirtschaftskrise und Verschwörungstheorie

Die an sich randständige Position verbreitete sich im Kontext des Gründerkrachs von 1873, der ersten größeren Wirtschaftskrise im neu gegründeten Deutschen Reich, welche ihre Kreise bis nach Wien zog. Angesichts drohender oder befürchteter Pauperisierung der Unter- und Mittelschichten verlegte sich eine erstarkende Sozialdemokratie auf die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus als Leitmotiv ihrer Agitation. Die Situation erlaubte den bislang marginalisierten antisemitischen Zirkeln, aus ihrem Schattendasein herauszutreten. Sie liefern zur sozialistischen Systemkritik eine völkisch-nationalistische Gegenposition: So verstand es in Berlin der Hofprediger Stocker, in Wien der legendäre Bürgermeister Karl Lueger, jüdischen „Wucher“ für die Misere verantwortlich zu machen; in Kombination mit der biologistischen Prämisse des unrevidierbaren hebräischen Kollektivcharakters gediehen in einem solchen Milieu Fantasien einer Weltverschwörung, eines gezielten jüdischen „Parasitismus“, in der jedes Mitglied der „Rasse“, die Journalistin ebenso wie der Bankier, zu den Mitverschworenen zählt. Entsprechend ließ sich die damals laufende jüdische Migration aus Osteuropa als Strategie geplanter Unterwanderung verkaufen. Nur aus einer derartig paranoiden Logik ist zu erklären, dass eine kleine machtlose Minderheit einen renommierten Historiker wie Treitschke zu der erwähnten Parole brachte: „Die Juden sind unser Unglück!“. Was uns wieder zu Nietzsche zurückführt.

Die Maske des Anti-Antisemiten

Warnungen vor vermeintlich jüdischer „Gefahr“ qualifiziert er als Ausdruck teutonischer Verdummung. Obwohl er selbst einmal kurzzeitig von dieser Krankheit infiziert gewesen sei – gemeint ist seine Zeit als Wagnerianer – habe er sich doch völlig davon erholt und dies auch im öfffentlichen Bruch mit seinem vormaligen Idol dokumentiert. An diesem Punkt enden in der Regel jene Manuskripte, die Nietzsche zum Kämpfer gegen den Antisemitismus stempeln. Der Text geht freilich weiter – sehen wir, was er noch, speziell zum Thema der ostjüdischen Einwanderung, zu sagen hat: „Dass Deutschland reichlich genug Juden hat, dass der deutsche Magen, das deutsche Blut Not hat (und noch auf lange Not haben wird), um auch nur mit diesem Quantum »Jude« fertig zu werden – so wie der Italiener, der Franzose, der Engländer fertig geworden sind infolge einer kräftigeren Verdauung –: das ist die deutliche Aussage und Sprache eines allgemeinen Instinktes, auf welchen man hören, nach welchem man handeln muss.“

Zugegeben, gegen die Vorstellung einer bedrohlichen jüdischen Verschwörung ist Nietzsche geistig immun und das diesbezügliche antisemitische Geschrei lehnt er ab. Anders verhält es sich mit der Vorstellung, wonach deutsches „Blut“ und deutscher „Magen“ – fraglos biologistische Metaphern – an der Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit seien.

Angst vor Überfremdung

Demgemäß unterstützt Nietzsche die judenfeindliche Forderung nach einem Stopp der Einwanderung aus dem Osten: „»Keine neuen Juden mehr hineinlassen! Und namentlich nach dem Osten (auch nach Österreich) zu die Tore zusperren!« also gebietet der Instinkt eines Volkes, dessen Art noch schwach und unbestimmt ist, sodass sie leicht verwischt, leicht durch eine stärkere Rasse ausgelöscht werden könnte“.

Ein gezielt sozialdarwinistischer Blick auf die Welt sieht angesichts der Einwanderung jüdischstämmiger Menschen aus Polen nach Deutschland zwei „Rassen“ aufeinander treffen, von denen die eine die andere „auslöschen“ könnte. Zwar komme hier die Schwäche des deutschen Nationalcharakters ins Spiel, der noch nicht so gefestigt wie vergleichsweise der französische sei, aber eben deshalb sei diesem „Instinkt“ des Volkes Folge zu leisten.

Schließlich folgt etwas, was als vergiftetes Lob bezeichnet werden könnte: „Die Juden sind aber ohne allen Zweifel die stärkste, zäheste und reinste Rasse, die jetzt in Europa lebt; sie verstehen es, selbst noch unter den schlimmsten Bedingungen sich durchzusetzen (...)“.

Es erweist sich, dass Nietzsche mit seiner Lobeshymne einer Art von umgekehrtem Antisemitismus das Wort redet. Tief in die Logik der Rassenlehren verstrickt, schreibt auch er – wie seine  Widersacher – ethnischen Gruppen biologische Charakterzüge zu und sieht sie in einem ewigen Streit miteinander. Er zieht nur andere Konsequenzen aus diesem Szenario.

Züchtungsfantasien

Die Pointe des Ganzen liegt nämlich darin, dass er seinem Konstrukt einer jüdischen „Rasse“ Eigenschaften zuschreibt, die in seinen Augen positiv, weil funktional für den Daseinskampf sind. Ein gewisses „Quantum“ – verräterische Formulierung – an Zuwanderung sieht er als nützlich an, gerade weil dieses seinen völkischen Beitrag zum deutschen „Blut“ leisten könnte: „Es liegt auf der Hand, dass am unbedenklichsten noch sich die stärkeren und bereits fester geprägten Typen des neuen Deutschtums mit ihnen einlassen könnten, zum Beispiel der adelige Offizier aus der Mark: es wäre von vielfachem Interesse, zu sehen, ob sich nicht zu der erblichen Kunst des Befehlens und Gehorchens – in beidem ist das bezeichnete Land heute klassisch – das Genie des Geldes und der Geduld (und vor allem etwas Geist und Geistigkeit, woran es reichlich an der bezeichneten Stelle fehlt –) hinzutun, hinzuzüchten ließe“. Nietzsche plädiert also für ein jüdisches Ingrediens im völkischen Genpool zwecks Züchtung einer neuen Herrenrasse – sein Philosemitismus fließt aus rassistischen Motiven. Ironischerweise unterscheidet er sich von den deutschnationalen Schreihälsen kaum durchs biologistische Weltbild, lediglich durch dessen geografische und ethnische Ausrichtung; ihm geht es um „die Züchtung einer neuen über Europa regierenden Kaste“, deren Material die europäischen Völker – samt eines jüdischen Einsprengsels – bilden. Letzteres kann sein „Genie des Geldes“ dazu beisteuern; nicht einmal vor solch dummen Zuschreibungen macht der vorgebliche Kritiker antijüdischer Verdummung halt.

Weltmachtfantasien

Am Verschwörungsgeraune von Treitschke und Konsorten dekonstruiert Nietzsche nicht etwa dessen wahnhaften Charakter. Er teilt es vielmehr, zumindest in einer Hinsicht: „Dass die Juden, wenn sie wollten – oder, wenn man sie dazu zwänge, wie es die Antisemiten zu wollen scheinen –, jetzt schon das Übergewicht, ja ganz wörtlich die Herrschaft über Europa haben könnten, steht fest; dass sie nicht darauf hinarbeiten und Pläne machen, ebenfalls“. Wer einer zahlenmäßig verschwindenden, ständig durch Übergriffe und Diskriminierung bedrohten Minderheit nichts Geringeres als die Fähigkeit zur Beherrschung Europas zutraut, ist fest eingeschlossen im projektiven Spiegelkabinett des Antisemitismus. Nur ihr Wille zur Assimilation halte sie von der Machtübernahme ab, zumal es an Mitteln nicht zu mangeln scheint: „Einstweilen wollen und wünschen sie vielmehr, sogar mit einiger Zudringlichkeit, in Europa, von Europa ein- und aufgesaugt zu werden, sie dürsten darnach, endlich irgendwo fest, erlaubt, geachtet zu sein und dem Nomadenleben, dem »ewigen Juden« ein Ziel zu setzen –; und man sollte diesen Zug und Drang (der vielleicht selbst schon eine Milderung der jüdischen Instinkte ausdrückt) wohl beachten und ihm entgegenkommen: wozu es vielleicht nützlich und billig wäre, die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen“. Da ein gewisses Maß jüdischer Immigration zur Züchtung der kommenden Aristokratie Europas von Nutzen sein könnte, sollte man diese akzeptieren und die machtbewussten „Instinkte“ besagten Menschenschlages als gewissermaßen erbbiologische Bereicherung begrüßen. Diesem wahrhaft nationalen Anliegen stehen die „Schreihälse“ entgegen, und deshalb will Nietzsche sie – in ironischer Umkehrung ihrer Parole – ausweisen; nicht aber aufgrund ihres Rassenwahns, den er ja in umgekehrter Form teilt: Wegen dieses, seines Wahnes schätzt er das Judentum, oder vielmehr das Bild, was er von ihnen imaginiert.

Eingemeindung

Wie schon im ersten Teil dieses Textes gezeigt wurde, ist das Werk Nietzsches nach 1945 einer reichlich selektiven Lektüre unterzogen worden. Jene vernunftkritische Strömung innerhalb der französischen Philosophie, verkörpert durch Michel Foucault, die später unter dem Titel der Postmoderne reüssierte, übernahm die bei ihm einschlägige Denunziation all jener wissenschaftlichen und philosophischen Objektivitätsansprüche, die historisch mit der Aufklärungsbewegung des 17. und 18. Jahrhunderts korrespondieren. Für den Reaktionär Nietzsche lag darin jahrhundertelanger kultureller Verfall, ein verhängnisvoller Irrweg Europas, durch den die eigentlich natürliche Herrschaft der Stärkeren über die Schwächeren zugunsten demokratischer Illusionen untergraben wurde. Dieser rote Faden duchzieht das Werk und manifestiert sich in Sentenzen wie folgender: „Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung (…)“. Foucault glaubte nun, die polemische Demontage liberaler Vernunft übernehmen und zu emanzipatorischen Zwecken umdeuten zu können. Geebnet wurde damit der Weg u.a. für die kulturrelativistische Gleichsetzung naturwissenschaftlicher, mathematischer oder auch politischer Erkenntnisse zu quasi willkürlichen Setzungen eines kolonialen Westens. Die seltsame geistige Querfront der Postmodernen mit Nietzsche, Carl Schmitt und Heidegger hat der Popularität der Bewegung keinen Abbruch getan. Und was den Antisemitismus betraf, hatte wenigstens Nietzsche eine weiße Weste: Wenn man weit genug weg ging, konnte man die schwarzen Flecken nicht mehr sehen.

 Entzauberung des Entzauberers Teil I

Jeder tiefe Geist braucht eine Maske, dank der beständig falschen, nämlich flachen Auslegung, jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebenszeichens, das er gibt.“ Schon zu Lebzeiten hat sich Friedrich Nietzsche in seinem Essay        

               „Jenseits von Gut und Böse“ über die öffentliche Verzerrung seiner Gedanken beklagt. Die Deutungskämpfe ums Werk halten im Grunde bis heute an und haben erstaunliche Wendungen genommen. Nachdem er 1889 in einen akuten psychotischen Zustand gefallen war, von dem er sich bis zu seinem Tod 1900 nicht mehr erholte, hatte ohnehin die Nachwelt das Sagen. Eine privilegierte Stellung fiel seiner Schwester Elisabeth als Nachlassverwalterin zu. Sie stellte, wie mittlerweile erforscht ist, Texte manipulativ zusammen, um gezielt die antidemokratischen Tendenzen – die unbestreitbar vorhanden sind – hervorzuheben und ihren Bruder als Ideologen im bürgerlich-nationalen Milieu des Kaiserreichs zu etablieren. Dessen Selbstinszenierung in der Pose des notorisch unverstandenen Freidenkers und sein klägliches Ende standen dem nicht entgegen: Der Mythos von Genie und Wahnsinn trug bekanntlich gerade zur Popularität bei.

Maske des Gegenaufklärers

Nietzsche hatte für die christlich-jüdische Moral des Mitleids nur Verachtung übrig, weil er darin eine Entartung sah, Missachtung einer Natur, die ihren ungleichen Geschöpfen lediglich stärkeren oder schwächeren Willen zur Macht eingepflanzt habe. Die Leugnung dieser Tatsache gehe auf eine Art von geistigem Sündenfall zurück – den „Sklavenaufstand“ in der Moral, der den Menschen Gleichheit vor einem nicht existierenden Gott zugesprochen habe. Nietzsche verortete ihn im Judentum und der Jesus-Figur. Die Französische Revolution wiederum sei die säkularisierte Form davon, mit ihrer Transformation religiöser in politische Gleichheit. Aus jener sei das zum Mittelmaß verdammte „Herdentier“, der Mensch der Moderne, hervorgegangen. Überwunden werden könne es nur durch einen neuen „Übermenschen“, der die Fesseln der Moral sprengt. Dieses Motiv des „Immoralismus“ sickerte ins öffentliche Bewusstsein der wilhelminischen Gesellschaft ein. Thomas Mann ließ sich davon zu einigen frühen Erzählungen inspirieren – erst 1947 wird er in einem öffentlichen Vortrag mit seinem vormaligen Idol brechen. Der nationalistische Schriftsteller Ernst Jünger berief sich auch nach dem Ende des Dritten Reichs auf den Schöpfer des „Zarathustra“. Nietzsche gehörte fraglos zum offiziellen ideologischen Überbau des Nazismus, wie sich etwa in der Anekdote ausdrückt, dass Hitler Mussolini 1941 eine Gesamtausgabe in Leder geschenkt haben soll. Komplementär dazu Nietzsches Wahrnehmung in liberalen und linken Kreisen: Der marxistische Philosoph Georg Lukács stellte ihn im Rahmen seiner Schrift „Die Zerstörung der Vernunft“ 1954 als einen der Wegbereiter jener antiaufklärerischen Wende im deutschen Geistesleben dar, welche zur ideologischen Vorbereitung des Ersten Weltkriegs und zum Heraufdämmern des Faschismus beitrug – nicht jedoch, ohne ihm trotz alledem ein gewisses literarisches Niveau zu attestieren.

Maske des Literaten

„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du zu lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ (S. 98) Dieser berühmte Aphorismus zeigt den „anderen“ Nietzsche, aus dem psychologischer Scharfblick und, in seiner Warnung vor der ansteckenden Wirkung des Hasses, eine gewisse Humanität spricht. Aufgrund solcher Äußerungen stellten selbst entschiedene Gegner wie Lukács ihn nicht auf eine Stufe mit platten Rassentheoretikern nach dem Bilde eines Stewart Chamberlain. Allzu simple Ettikettierungen verbieten sich, zumal der anfängliche Bewunderer Wagners sich später öffentlich von diesem lossagte und gegen dessen Antisemitismus aussprach. 1871 zunächst begeisterter Kriegsfreiwilliger, äußerte er sich in den Folgejahren zunehmend skeptisch über jenen Krieg, den schlichte chauvinistische Gemüter – etwa Heinrich von Treitschke – als Höhepunkt deutscher Geschichte bejubelten. Das Spielerische und Vielstimmige seiner Texte führt mitunter zu paradoxen Wirkungen: Die Bremer Malerin Paula Modersohn Becker ließ sich durch berüchtigte frauenverachtende Sentenzen in Nietzsches Werk nicht davon abhalten, ihn in ihren Briefen zustimmend zu erwähnen. Seine Forderung, künstlerisches Schaffen solle die Grenzen herkömmlicher Moral sprengen, deutete sie als Ermutigung für sich, an ihrer Karriere festzuhalten und die Warnungen vor der Vernachlässigung familiärer Pflichten in den Wind zu schlagen. Und Sätze wie der folgende erklären, warum Sigmund Freud, politisch von liberaler Gesinnung, die Beobachtungsgabe Nietzsches schätzte: „Was wir im Traume erleben, vorausgesetzt, dass wir es oftmals erleben, gehört zuletzt so gut zum Gesamthaushalt unserer Seele, wie irgendetwas ‚wirklich‘ Erlebtes: wir sind vermöge der selben reicher oder ärmer, haben ein Bedürfnis mehr oder weniger…“.

Maske des Entzauberers

Die „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) als Folge des Siegeszugs der Wissenschaften begann bereits mit der Epoche der Aufklärung, doch fußte das bürgerliche Bewusstsein noch bis ins 20. Jahrhundert auf Annahmen, die letztendlich antiker Metaphysik entsprungen waren: Selbst da, wo der Glaube an Gott verblasst war, hielt sich der Glaube an eine Sonderstellung des Menschen im Kosmos, an den höheren Sinn in der Welt. Die Aufgabe der Prädestination fiel, nachdem Gott ausgespielt hatte, der Geschichte zu, sie hatte den  Aufstieg der Menschheit zu einem glücklichen Endziel zu bewerkstelligen. Vom Tier unterschied den Menschen eine unteilbare, jenseits der Natur verankerte Seele. Der cartesische Dualismus einer denkenden und einer räumlichen Substanz hatte sich vom platonischen Idealismus nicht abnabeln wollen: Die Welt wurde noch immer vom Geist her regiert. Mit den Entdeckungen Galileis und später Darwins wurden diese und ähnliche Gewißheiten erschüttert. Die Entwicklung der Psychoanalyse fügte dem, wie Freud 1917 schrieb, noch eine dritte „Kränkung“ hinzu, indem nunmehr auch das fragile Gebilde der Psyche natürlichen und gesellschaftlichen Kräften unterworfen ist und höchstens noch darauf hoffen kann, den tragischen Verwerfungen frühkindlicher Konflikte einigermaßen heil zu entgehen. Nietzsche war ein Virtuose darin, den Verlust all dieser metaphysischen Gewissheiten zu Ende zu denken; seine Parole vom Tod Gottes kündet davon. So ist ihm jedenfalls der Ruf des Nihilisten zugewachsen und in die Schulbuchweisheit eingegangen. Denn wo jeglicher höherer Wille, sei es Gottes, sei es der Natur, als Illusion entlarvt ist, könne es auch keine höheren sittlichen Gebote oberhalb der Arena menschlicher Interessengegensätze mehr geben. Diesen radikal antimetaphysischen und moralkritischen Impulsen im Werk ist es zu verdanken, dass Nietzsche nach 1945 wiederentdeckt wurde.

Renaissance und Rehabilitation?

Nach dem Krieg waren die Manipulationen von Elisabeth Förster-Nietzsche ans Licht gekommen. Gingen die bekannten hässlichen Töne am Ende nur aufs Konto der Schwester und ihrer finsteren Machenschaften? Eine neue Lektüre der nunmehr textkritisch editierten Schriften führt zur Nietzsche-Renaissance bei Leuten, die mit Gesellschaftskritik liebäugeln, darunter ein junger aufstrebender Intellektueller namens Michel Foucault. Auf wissenschaftlichen Konferenzen – genannt sei Royaumont 1964  – wird nach einem zeitgemäßen Bild des „Unzeitgemäßen“ gesucht. Der Kulturwissenschaftler Phillip Felsch geht so weit, sie als eines der Ereignisse zu bezeichnen, „mit denen die Postmoderne in der französischen Philosophie begonnen hat“. Viele der zugehörigen Schlagworte, etwa das vom Ende des Individuums, lassen sich mit Zitaten aus der „Genealogie der Moral“ oder anderen einschlägigen Texten verbinden. Und die andererseits nicht wegzuleugnenden konservativen Motive, der Kult des Übermenschen, die Verachtung der Masse und ähnliche, werden heruntergespielt oder nach Gusto der Interpretierenden umgedeutet. Üblich ist die Floskel, der Meister habe ohnehin keine feste Lehre vertreten. Haben sich kritische Jünger wie Foucault oder Derrida vielleicht von der Aura des Entzauberers verzaubern lassen? Wer heute nach Kerngedanken Nietzsches sucht oder gar auf eine Lehrabsicht aus ist – die der Autor ja nicht nur in seiner Zarathustra-Maske unablässig zelebriert – findet sich schnell im Labyrinth der verschiedensten Deutungen wieder. Hier könnte eine alte philologische Devise an Charme gewinnen: Zurück zu den Quellen! Zu empfehlen ist, die Originaltexte zu lesen, und dafür eignet sich „Jenseits von Gut und Böse“ sehr gut; alle bisher verwendeten und alle noch kommenden Zitate stammen übrigens daraus. Eine erste Frucht dieser Lektüre könnte in der Einsicht liegen: Nietzsche ist alles andere als ein Nihilist.

Maske der Skepsis

„Wir sind es, die allein die Ursachen, das Nacheinander, das Füreinander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben und wenn wir diese Zeichen-Welt als ‚an sich‘ in die Dinge hineindichten, hineinmischen, so treiben wir es noch einmal, wie wir es immer getrieben haben, nämlich mythologisch.“ (S. 36)

Anknüpfend an die Argumente des antiken Skeptizismus bestreitet Nietzsche jegliche Objektivität im Denken. Dabei fällt er notwendig in den Widerspruch, den schon ein antiker Vorläufer wie Sextus wahrnahm: Sind alle Kategorien des Denkens wertlos, weil sie die Erkenntnis, die sie suchen, niemals liefern können, so schlägt das auf den Skeptizismus zurück, der für seine Widerlegung ja ebenso auf logische Kategorien zurückgreifen musste. Daraus ergab sich nach antikem Verständnis die Pflicht zur Urteilsenthaltung – also zu schweigen. Nietzsche übernimmt den Denkfehler der Altvorderen, nicht jedoch ihren Anflug von Selbstkritik. Er verkündet großspurig die Unmöglichkeit der Objektivität – als seine unwiderlegliche Erkenntnis. Variieren lässt sich das klassische Motiv auch über die angeblichen Unterschiede zwischen den Sprachen: „Philosophen des ural-altaischen Sprachbereichs (in dem der Subjekt-Begriff am schlechtesten entwickelt ist) werden mit großer Wahrscheinlichkeit anders ‚in die Welt’ blicken und auf anderen Pfaden zu finden sein, als Indogermanen oder Muselmänner: die Bahn bestimmter grammatischer Funktionen ist im letzten Grunde die Bahn physiologischer Werturteile und Rassebedingungen.“ (S. 35)

Das Postulat, Menschen seien in ihre jeweiligen Sprachfamilien eingeschlossen und ihre Vorstellungen von der Welt das bloße Produkt grammatikalischer und syntaktischer Besonderheiten, tritt bereits bei Herder in der Romantik auf. Nietzsche spitzt es in doppelter Weise zu: Auch die letzten Fundamente aufgeklärten Bewusstseins – exemplarisch das Ich als Zentrum der Subjektivität – entspringen lediglich dem Zufall, in welche Grammatik man hineingeboren wurde. Diese wiederum verknüpft sich auf eigentümliche Weise mit biologischen Begriffen wie „Physiologie“ und „Rasse“ – maßgebliche Anschauungen einer Menschengruppe sind offenbar bedingt durch biologische Determinanten. Rasse bestimmt Sprache, und diese bestimmt das Denken: Zieht man Nietzsche die Maske des feinsinnigen Skeptikers vom Kopf, kommt ein ordinärer Sozialdarwinist zum Vorschein. Demensprechend erscheint ihm Denken letztendlich als eine Funktion der Arterhaltung: „Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand dagegen; darin klingt unsere neue Sprache, vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit sie lebenfördernd, lebenserhaltend, arterhaltend, vielleicht gar artzüchtend ist.“ (S. 18). Ein Gedanke ist brauchbar, sofern er zum Überleben der eigenen Art beiträgt, und handele es sich dabei auch um die absurdeste Lüge. Nietzsches angetäuschter Nihilismus, mit dem alle Ansprüche auf Wissenschaftlichkeit zurückgewiesen werden, mündet in die Verkündung einer aristokratischen Rassenlehre. Übrigens wird das neue Evangelium der Ungleichheit im nächsten Atemzug als wissenschaftliche Tatsache verkauft – „Physiologie“ – obgleich ein paar Zeilen vorher alles Denken als „Mythologie“ denunziert wurde.

Maske der Religionskritik

„Wo nur auf Erden bisher die religiöse Neurose aufgetreten ist, finden wir sie verknüpft mit drei gefährlichen Diät-Verordnungen: Einsamkeit, Fasten und geschlechtlicher Enthaltsamkeit...“ (S. 67). Nietzsche, sofern er im antiklerikalen Ornat auftrat, wurde nicht müde, kirchliche Würdenträger, vor allem solche des Christentums, mit Spott zu überziehen, was wiederum dem Gerücht Vorschub leistet, er sei doch eigentlich dem Lager der Aufklärung zuzurechnen. Das Lob abstrahiert lässig von dem, worauf alle Kritik bei ihm hinausläuft: auf die vermeintliche Verweichlichung der Menschheit, die er für ein Resultat christlicher Ideale hält.

Das Christentum arbeitete seit seiner Entstehung an der „Verschlechterung der europäischen Rasse“. Während in der antiken Welt das Gute mit dem für die Herrschenden Nützlichen zusammenfiel, werden nun „alle Wertschätzungen auf den Kopf gestellt“. Alles „Selbstherrliche, Männliche, Erobernde, Herrschsüchtige, alle Instinkte, welche dem höchsten (…) Typus ‚Mensch‘ zu eigen sind“ (S. 82) werden missachtet und vom Sockel gestoßen. Jene Ausgeburt natürlichen Machtstrebens, welche in der von Nietzsche imaginierten Antike heimisch war, wird pervertiert zur „sublimen Missgeburt“, ein „Herdentier“, etwas „Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmäßiges“. Denn das Gebot der Nächstenliebe, ob in christlicher Färbung oder als ethisches Prinzip, ist für Nietzsche „abgeschmackt falsch und sentimental“ (S. 107), „in einer Welt, deren Essenz Wille zur Macht ist“.

Grenzenlose Bewunderung empfindet Nietzsche daher für die Großen der Geschichte, gerade wenn sie der modernen Moral des ausgehenden 19. Jahrhunderts suspekt geworden sind. „Raubmenschen“ wie Cesare Borgia gelten ihm als die „gesündesten aller tropischen Untiere“, und die Herrschaft Napoleons war die glücklichste Zeit für Europa im 19. Jahrhundert. „Welche Wohlthat, welche Erlösung von einem unerträglich werdenden Druck trotz Alledem das Erscheinen eines unbedingt Befehlenden für diese Herdenthier-Europäer ist, dafür gab die Wirkung, welche das Erscheinen Napoleons machte, das letzte große Zeugniss ...“ (S. 120). Im Angesicht solcher übermachtiger historischer Gestalten erniedrigt sich der Verächter der Masse selbst zum gehorsamen Herdentier.

Quelle: Nietzsche, F.: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. (1886). Zitiert nach der Kritischen Studienausgabe, Band 5. Neuausgabe 1999, dtv Verlagsgesellschaft München.

Der Artikel wird in der nächsten Ausgabe fortgesetzt.